Neuland
Samer und Fatema Hajkhamis haben mit Alaa Chanineh im Wismarer Stadtteil Friedenshof ein Kulturzentrum eröffnet. Sie kamen 2015 selbst als Geflüchtete in die Ostseestadt und reichen nun Menschen aus der Ukraine die Hand. Die Geschichte einer Verwurzelung.
„Wir sind am neunten September 2015 nach Wismar gekommen, um zwei Uhr morgens. Da waren zwei Leute mit Essen und Trinken, die haben uns empfangen. Dieses Hallo war nach 21 Tagen unterwegs sein so großartig. Das war unser Anfang in Wismar. Wir waren die erste Gruppe von Geflüchteten.“ Das erzählt Alaa Chanineh, Augenoptiker und Familienvater. In seiner Geburtsstadt Damaskus war er Modedesigner und hatte seine eigene Boutique. Dann marschierte Putin in Syrien ein. Was seine Heimat war, wurde zerstört. Gemeinsam mit Samer Hajkhamis machte er sich auf den Weg nach Deutschland. Das Camp für Geflüchtete in Berlin, in dem sie ankamen, war überfüllt, also wurden sie in Bussen weiter in den Norden Deutschlands gebracht, getrennt voneinander.
Horst, Anklam, Neubuckow, Jürgenstorf – die Namen der einzelnen Zwischenstationen bezeichnen Orte, in denen Sammelunterkünfte stehen, isoliert und mit dem Nötigsten ausgestattet. Das Ziel der beiden Männer: möglichst schnell Fuß zu fassen, eine eigene Wohnung zu finden. „Wir haben immer an unsere Familien gedacht. Jede Minute hätte etwas passieren können“, erinnert sich Samer.
Lebhaft steht Alaa die Unterbringung in Pinnow noch vor Augen: „Nach einem Tag waren alle Fensterscheiben kaputt. Nachts kamen fünf Leute aus dem Wald und haben den Zaun angezündet. Es hat eine Dreiviertelstunde gedauert, bis die Polizei da war.“ Eine Familie nimmt ihn daraufhin zu sich, meldet ihn im eigenen Haus beim Einwohnermeldeamt an. Schließlich kommen Alaa und Samer nach Wismar, in den Ortsteil Friedenshof. Außerhalb des Stadtkerns gelegen, fällt er durch seine Plattenbauten auf.
Zu DDR-Zeiten wurden hier Gastarbeiter*innen untergebracht und blieben notgedrungen unter sich, trotz der engen Nachbarschaft zu Wismarer Bürger*innen. Außerhalb seiner eigenen Grenzen trug Friedenshof das Stigma des Fremden, Abgehängten: Alkohol und Arbeitslosigkeit, wurde hinter vorgehaltener Hand geraunt. „Das ist heute nicht mehr so“, sagt Alaa. Kinderrufe auf den Schulhöfen, adrette Reihenhaussiedlungen, sanierte Fassaden, ruhige Straßen, Trampoline auf gemähtem Rasen. „Wir fühlen uns wohl hier“, bestätigt Samer und legt den Arm um die Schulter seiner Frau Fatema. Der Start aber sei schwer gewesen.
Rassismus ist Alltag
„Ich kann nicht zählen, wie viele Menschen am Wochenende ehrenamtlich bei uns waren und uns geholfen haben“, sagt Alaa. „Nach zehn Tagen wurde uns aber gesagt, wir sollen nicht mehr alleine einkaufen, sondern in Gruppen oder in deutscher Begleitung.“ Zu groß sei die Angst vor Übergriffen gewesen. Stimmung gegen die Geflüchteten machte zu dieser Zeit allen voran die AfD.
Als die Familien nachgezogen waren, hätten vor allem die die Frauen mit Anfeindungen zu kämpfen gehabt, sagt Samer. Manchen sei auf offener Straße das Kopftuch herunter gerissen worden. Noch jetzt wirkt sein Gesicht wie versteinert, wenn er davon erzählt. Doch auch das ständige Anstarren allein habe schon Angst gemacht. Er habe seine Frau Fatema stets beruhigt: „Es braucht einfach Zeit.“ Nach zwei Jahren habe sich die Lage abgekühlt, erinnert sich Alaa. „Natürlich erleben wir jeden Tag Rassismus, aber nicht mehr mit so viel Gewalt.“
Offene Arme und fliegende Steine – was folgt aus einem so gegensätzlichen Empfang? Samer und Alaa haben sich entschieden, in Wismar etwas zu schaffen. Inmitten von Friedenshof liegt das Promenadencenter, ein kleines Einkaufszentrum mit einem Bistro, Bekleidungsgeschäften, einer Drogerie. Hier, im ersten Stock, befindet sich hinter den Bullaugenfenstern schwerer Türen der Kultur-Treffpunkt des Vereins „Für Euch“. Gemeinsam haben die Männer ihn 2019 gegründet. Das sei kein Leichtes gewesen in Anbetracht der komplizierten Bürokratie: Schatzmeister oder Kassenwart – welches Wort muss in der Vereinssatzung stehen …?
Samer und Alaa haben sich durch dieses Labyrinth gekämpft, weil sie überzeugt sind, dass ein Ort der interkulturellen Begegnung in Friedenshof gebraucht wird. „Wir wollen vor allem Frauen und Kinder fördern“, sagt Alaa. „Es gibt Communities in Wismar, die trauen sich nicht rauszugehen oder Kontakt herzustellen. Unser Ziel ist, dass hier viele Kulturen zusammenkommen.“
Schulterschluss mit ukrainischen Geflüchteten
Als Anfang des Jahres Geflüchtete aus der Ukraine in Wismar eintrafen, war „Für Euch“ zur Stelle. „Wir kennen das Gefühl, das diese Menschen haben, ganz genau. Wir wissen, was sie jetzt brauchen“, erklärt Samer, der nach seinem Bundesfreiwilligendienst mittlerweile in der Migrationshilfe arbeitet. Die Fragen, die die Kinder stellten, kamen dem Vereinsteam schmerzlich bekannt vor: „Wo sind Oma und Opa? Wo sind Tante und Onkel?“ Alaa, Samer und ihre Familien haben ihre Eltern und Verwandten seit sieben Jahren nicht gesehen. Hier an der Kapitänspromenade boten sie einen Ort zum Spielen, Malen, Zusammenkommen. „Die Kinder müssen auch mal raus aus der Notunterkunft“, argumentiert Samer.
Die Ergebnisse dieser Nachmittage zieren die Vereinswände, darunter ein verstörendes Bild: Ein Mann kniet bewaffnet über einem anderen, Blut fließt. Gemalt hat es ein kleines Mädchen. Den Erlebnissen einen Platz geben und gleichzeitig für Zerstreuung sorgen – das war auch das Ansinnen eines Kultur-Tags, den Fatema durchführte. Es war das erste geförderte Projekt in der jungen Geschichte des Vereins. Der Ideenfonds von JUGENDSTIL* stellte Geld zur Verfügung für diesen Nachmittag mit Menschen zwischen 12 und 22 Jahren aus dem Iran, Syrien, Russland und der Ukraine.
„Zuerst haben wir eine Erzählrunde gemacht und die Stadt vorgestellt. Was ist das überhaupt, Wismar?“, erzählt Fatema. Dann lauschten sie gemeinsam ukrainischen, arabischen und deutschen Liedern. „Die Menschen aus der Ukraine waren erst sehr still, aber bei ihren bekannten Liedern haben sie mitgesungen und getanzt“, erinnert sie sich. Immer noch stehe sie mit fünf ukrainischen Frauen in Kontakt. Gemeinsam planen sie ein „Kulturessen“ mit unterschiedlichen Speisen.
„Wir leben in einer kleinen Stadt“, sagt Fatema. „Wir haben wenig Kontakt zu anderen Menschen. Wir brauchen solche Projekte, besonders um Kinder zu integrieren.“ Die Vorbereitungen seien ziemlich stressig gewesen, „aber am Ende des Tages wollte ich gleich wieder ein Projekt machen.“ Das muss allerdings erst einmal warten, denn die dreifache Mutter hat kürzlich eine Ausbildung in der Alten- und Krankenpflege begonnen.
Doppelstandards, die schmerzen
Über dieses Fest hinaus bietet „Für Euch“ Sprachunterricht bei einer Russisch-Ukrainisch-Lehrerin an. Immer wieder ziehen die Veranstalter*innen Parallelen zu ihrer Situation vor sieben Jahren: „Wir haben die Sprache in sechs Monaten auf eigene Faust gelernt“, erinnert sich Alaa. Samer, eigentlich gelernter Tierarzthelfer, fand keine Anstellung in seinem Beruf. Von ukrainischen Geflüchteten dagegen weiß er aus Gesprächen, dass sie angenommen wurden.
„Bei den Menschen aus der Ukraine war es anders als bei uns: Sie waren innerhalb eines Tages angemeldet – beim Jobcenter, bei der Ausländerbehörde. Sie haben schnell Wohnungen bekommen. Wir dagegen kennen Leute aus Syrien, die seit vier Jahren in Haffburg sitzen, weil sie keine Wohnung bekommen.“
Haffburg, das ist die Asylunterkunft Wismars, ein trister Gebäudeklotz am Hafen. „Deutschland hat seit 2015/2016 dazu gelernt“, sucht Alaa nach einer Erklärung. Die Unterschiede bei der Aufnahme festzustellen, schmerze dennoch. „Das hat nichts mit den ukrainischen Menschen zu tun. Aber es tut weh.“ Dezentrale Wohnungen, SIM-Karten, zweisprachige Hinweise im öffentlichen Raum, die Anerkennung von Dokumenten und Zertifikaten – der Verein trete auch für die Gleichbehandlung aller Geflüchteten ein, sagen die Männer.
Dazu gehöre auch politisches Engagement: Alaa ist Mitglied in der SPD. Zur Eröffnung des Kulturzentrums in Friedenshof war auch Bürgermeister Thomas Beyer zugegen, der die Pläne von „Für Euch“ unterstütze. Die größte Aufgabe, sei es immer wieder die Hand zu reichen: „Das sage ich zu allen: Grüß’ deinen Nachbarn, sag hallo. Du musst es versuchen. Das ist der erste Schritt gegen Missverständnisse“, ist Alaa sicher.
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