JUGENDSTIL* im Interview mit Alexander
Für unser Modellprojekt befragen wir junge Personen mit internationaler Geschichte nach ihrer Lebenssituation, ihren Erfahrungen und Erwartungen, ihren Hoffnungen und Befürchtungen für die Zukunft. Was bewegt die postmigrantische Generation heute und wofür setzen sich junge Menschen ein?
Hier stellen wir euch Alexander (21) aus Dessau vor. Er studiert im Moment in Halle und möchte Grundschullehrer werden. Seine Leidenschaft ist die Musik und sein großer Traum: Opernsänger sein. Wir haben mit ihm im September 2020 gesprochen.
Wie geht es dir gerade in der jetzigen „Corona-Zeit“?
Wenn ich ehrlich sein soll, geht’s mir seit der Corona-Krise viel besser. Natürlich wünschte ich, sie wäre nicht da. Aber für mich ganz persönlich gab es nur Vorteile und keine großen Nachteile. Auf meine Gesundheit zu achten sehe ich jetzt nicht als die große Herausforderung. Ich musste beispielsweise noch viel für die Uni erledigen, was ich ohne Corona wahrscheinlich nicht geschafft hätte. Das ist jetzt glücklicherweise alles fertig. Dann hatte ich auch viel Zeit für meine Musik, also Klavier spielen und Gesang. Ich hatte Online-Gesangsunterricht, in der Gruppe singen ging nicht, aber das war jetzt für mich persönlich nicht nötig. Ich kann allein singen oder zusammen mit anderen Menschen und so habe ich in der Zeit allein gesungen. Durch die Corona-Zeit hatte ich zudem die Möglichkeit, mich in ein für mich sehr wichtiges Thema zu vertiefen. Ich bin mittlerweile Christ, also ich habe mich bekehrt. Durch Corona hatte ich viel Zeit, die Bibel zu lesen und mich mit meiner Religion zu beschäftigen.
Wo lebst du gerade? Was gefällt dir dort, was nicht?
Ich wohne in Halle, habe aber auch einen Zweitwohnsitz in Dessau. Halle gefällt mir sehr gut, weil ich mit meiner Freundin zusammengezogen bin und wir seit einem halben Jahr das Zusammenleben genießen und erleben und die neue Situation erkunden. Ich fühle mich sehr wohl in Halle.
Was bedeutet Heimat für dich?
Das ist für mich so wie die Frage: „Was bedeutet Liebe für dich“. Ich habe mal ein Theaterstück dazu gesehen und da wurde gesagt: Heimat ist da wo du dich zu Hause fühlst. Ich habe nicht eine Heimat, aber ich fühle mich zu Hause an vielen Orten. Heimat ist dieses unbeschreibliche Gefühl, das aber trotzdem jeder kennt. Die Wohnung hier zusammen mit meiner Freundin, die Wohnung in Dessau mit meinen Eltern, der Urlaub in Bulgarien, weil da meine Großeltern sind… all das ist Heimat für mich.
Wo möchtest du später gern leben?
Das weiß ich nicht. Da habe ich gar keine Vorstellung. Aber ich sage mal wahrscheinlich in Sachsen-Anhalt. Über Halle oder auch Dessau möchte ich mich nicht beschweren, in beiden Städten fühle ich mich wohl.
Wir wissen es gibt Alltagsrassismus. Hast du schon einmal die Erfahrung gemacht, aufgrund deiner Herkunft diskriminiert worden zu sein bzw. Rassismus erlebt?
Ja. Aber ich empfand das nie als wirklich schmerzhaft. Als Kind in der Schulzeit wurde ich nicht so gut behandelt aber unabhängig von Rassismus. Da war Alltagsrassismus jetzt nicht das Schlimmste was mir widerfahren ist. Ich lache da über viele Dinge, auch Witze, was ja erweiterter Alltagsrassismus ist. Also ich versuche das nicht zu ernst zu nehmen.
Was verbindest du mit dem Begriff „Migrationshintergrund“?
Zum einen natürlich die offizielle Bedeutung dieses Begriffes. Zum anderen einfach ein cooles Leben. Es wird ja immer erzählt, man hätte so viele Nachteile. Für mich ist Migrationshintergrund etwas Wunderschönes. Ich bin unglaublich froh ihn zu haben und leben zu können: die vielen unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, Bräuche. Also wenn ich an Migrationshintergrund denke, denke ich immer an die vielen Treffen bei LAMSA (Anm. Red.: Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt e.V.), die mir wirklich Spaß gemacht haben. Ich war bei einigen Veranstaltungen dabei, ich habe dort Musik gemacht – Klavier gespielt. Klar, es hat natürlich auch Nachteile, Ausländer zu sein. Aber ich bin sehr froh es zu sein, weil ich weiß, was ich verpassen würde, wenn ich es nicht wäre…
Kennst du einen Begriff, den du passender für dich findest?
Am passendsten finde ich tatsächlich Mensch mit Migrationshintergrund. Ich bin glaube ich noch nicht mal offiziell Migrant. Ich habe das Gefühl, dass sprachliche Änderungen erst dann Realität werden, wenn sie von der gesellschaftlichen Mitte benutzt werden. Aber ich glaube nicht, dass man Anerkennung in Begriffen zeigen kann. Mir persönlich ist es total egal, wie man nicht nennt.
Wie ist deine Familiensituation? Wie lebst du im Moment? Mit wem verbringst du viel Zeit?
Da ich mit meiner Freundin zusammenwohne, verbringe ich natürlich auch viel Zeit mit ihr. Ansonsten verbringe ich auch viel Zeit mit meiner Familie, ich fahre jedes oder jedes zweite Wochenende nach Hause.
Womit beschäftigst du dich in deinem Alltag?
Im Mittelpunkt meines Lebens steht natürlich die Musik – Klavier und Gesang. Sport pflege ich tatsächlich nur als Hobby, vor allem Fußball spielen bzw. jegliche Ballsportarten. Ich treffe gern Freunde. Und ich beschäftige mich in meiner Freizeit auch mit meinem Glauben. Meine Mutter ist Buddhistin, mein Vater ist orthodoxer Christ, ich habe durch Freunde – also Jugendtreffen zu meiner Religion gefunden. Dann habe ich mich intensiver damit beschäftigt und später für diese Weltanschauung entschieden. Da kam es auch mal zu Konflikten innerhalb der Familie. Die Tatsache, dass meine Familienmitglieder andere Glaubensrichtungen angehören, hält mich nicht davon ab, das zu thematisieren. Natürlich ist das ein Konflikt.
Welche Hoffnungen und Erwartungen hast du für deine Zukunft?
Der Sinn meines Lebens besteht darin, dass ich Opernsänger werde. Das ist das, was mich am meisten interessiert auf der Welt und mich am Leben hält. Ich habe die Hoffnung – eigentlich nicht, aber ich würde es mir sehr wünschen – dass sich die Gesellschaft zum Positiven verändert. Heute wird sehr viel instrumentalisiert und auf Menschen losgegangen. Gerade in den sozialen Netzwerken. Ich glaube das sich sehr viele Fragen, die darum kreisen, wie man mit Klima oder mit Menschen mit Migrationshintergrund umgeht, klären würden, wenn die Menschen sich ihrem gutem Herzen bewusst werden und Freude am Leben haben. Ich nehme auch wahr, dass dieser ganze Hass und diese Drohungen nicht nur einseitig sind. Also sie kommen auch von Seiten der Menschen, die die Nationalsozialisten hassen. Es sind noch nie so viele Beleidigungen wie nach „Black Lives Matter“ passiert. Ich glaube die Menschen lassen sich zu viel instrumentalisieren und es ist nicht zielführend für die Sache, wenn alle sich hassen und beleidigen und wenn die Gesellschaft so angespannt ist.
Welche Befürchtungen oder Ängste hast du für deine Zukunft?
Ich sage mal meine Ängste gehen in die Richtung, das was ich eben beschrieben habe noch schlimmer wird. Andere Ängste sind, dass ich später als Elternteil mit meinen Kindern nicht klarkomme. Ich möchte auf jeden Fall Kinder haben, aber ich habe Angst davor, dass ich durch meine spezielle individuelle Prägung manchmal hilflos bin. Auch wenn ich später als Grundschullehrer vor meiner Klasse stehe. Sorgen und Ängste um mich selbst habe ich gerade keine, nicht mal vor dem Tod.
Welche Themen sind für dich in unserer Gesellschaft gerade besonders wichtig?
Das ist schwer zu sagen. Ich glaube nicht, dass bestimmte Themen noch mehr behandelt werden müssen. Ich würde mir aber wünschen, dass mehr positive Themen diskutiert werden und es dazu eigene Veranstaltungen gibt. Ich höre so oft von Freunden: diese ganzen Veranstaltungen zu Rassismus und Toleranz usw., das nervt langsam. Natürlich müssen auch die negativen Themen behandelt werden und es muss aufgeklärt werden. Aber es sollte auch schöne Themen geben. Für mich persönlich ist Empathie sehr wichtig, also dass man sich in andere Menschen hineinversetzen kann. Ob es nun um große Probleme wie Alltagsrassimus geht, oder dass man seinen Arbeitskollegen nicht mag, ich glaube wenn alle sich mehr mit Empathie beschäftigen würden, wäre viel gewonnen.
Was bedeutet es für dich, in einer Demokratie zu leben?
In einer Demokratie zu leben bedeutet für mich wichtiger Bestandteil eines größeren Zusammenhangs zu sein. Wie bei einem Chor zum Beispiel. Wenn eine Stimme fehlt, merkt man es im Chor nicht offensichtlich. Trotzdem ist für das Gesamtwerk jede Stimme wichtig.
Inwieweit bist du im Moment gesellschaftspolitisch aktiv und setzt dich für deine Interessen oder andere Menschen ein?
So richtig gar nicht. Da gibt es sehr wenig, wo ich mich wirklich aktiv engagiere. Ich versuche viel durch eigenes Handeln zu erreichen, zum Beispiel wenn ich mit jemandem Kontakt habe, begegne ich der Person als Mensch so, dass die anderen davon was in punkto Menschlichkeit mitnehmen können. So versuche ich bei jeder Begegnung etwas zu bewirken. So wie LAMSA auf der großen ganzheitlichen Ebene versucht eine Wirkung zu erreichen, so versuche ich das individuell. Aber ich engagiere mich jetzt nicht in bestimmten Projekten. Sollte ich vielleicht ändern. Vielleicht kann man als Engagement zählen, dass ich bei den LAMSA-Veranstaltungen auftrete, bin ich dann engagiert? Bei „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“ hatte ich mich damals beteiligt. Ich habe ja vorhin gesagt, dass ich in Sachsen-Anhalt bleiben möchte. Das mache ich vor allem deshalb, damit in Sachsen-Anhalt ein höherer Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund lebt. Aber da kommt es natürlich nicht nur auf mich sondern auch auf die Anderen an.
Was motiviert dich in deinem Engagement?
Zum einen bereitet mir das Freude, zum anderen erhoffe ich mir so ein bisschen, dass es die Gegenseite dann auch macht und die Menschen merken, es ist doch gar nicht so schlecht, dass der mir geholfen hat, da könnte ich vielleicht auch anderen helfen.
Was brauchst oder wünschst du dir an Unterstützung für dein Engagement?
Ich erhoffe mir so ein bisschen Unterstützung von Menschen, die ähnlich wie ich vorgehen und damit etwas bewirken wollen. Also dass viele Menschen anderen mit mehr Menschlichkeit begegnen und jeder das für sich allein macht. Ich würde auch mal bei einem Workshop oder einem Projekt mitmachen.
Was möchtest du gern anderen jungen Menschen mit auf den Weg geben?
Sicherlich haben alle unterschiedliche Strategien für die Alltagsbewältigung, aber ich möchte gern mitgeben, sich auf das Positive zu fokussieren. Ich empfehle jungen Menschen, ihre internationale Geschichte als ein Geschenk zu betrachten, mit dem man anderen einiges zeigen kann.