Entfesselt

In Deutschland sind Zoos beliebte Freizeiteinrichtungen, doch die scheinbare Romantik der „Wildnis“ hinter Plexiglas durchdringen bis heute wirkmächtige rassistische Strukturen. Kalsoumy und Caro vom Kollektiv „DecolonizeZoo Leipzig“ kämpfen für eine Aufarbeitung dieser Probleme – mit Erfolg bis in die kommunalpolitischen Strukturen.


„Was machen Sie da?“, fragt der Sicherheitsmitarbeiter in der olivgrünen Montur alarmiert. Sein Blick fällt auf die bemalten Stoffbanner. „Ich mache hiermit von meinem Hausrecht Gebrauch! Verlassen Sie sofort das Gebäude!“ Eilig drängt er in Richtung Tür, weist energisch den Weg auf den Gehsteig. 

Kalsoumy und Caro sind nicht gern gesehen am Zoo in Leipzig, auch, wenn es nur für ein Foto-Shooting im gegenüberliegenden Parkhaus ist. Zwei Frauen mit Pappschildern, das mag auf den ersten Blick harmlos wirken. Doch ihre Forderungen erschüttern das Konzept Zoologischer Garten in seinen Grundfesten. Beide gehören zum Bündnis „DecolonizeZoo Leipzig“. Während einer Aktionswoche 2021 beteiligte sich das Netzwerk an einem breiten Protest – mit Workshops, kritischen Vorträgen und einer Kunst-Performance. Gefördert wurden die verschiedenen Kundgebungen durch den Ideenfonds von JUGENDSTIL*. Das große gemeinsame Ziel: Aufmerksamkeit erregen.

Der Zoo in Leipzig gilt als Deutschlands schönster seiner Art und als europäisches Vorbild. Direktor Jörg Junhold rühmt ihn auf der Webseite als modern und innovativ; Kritiker*innen aus Zivilgesellschaft und Stadtpolitik sehen das seit Jahren anders und erheben ihre Stimme. Darunter lokale Bi_PoC-Gruppen wie „Black Lives Matter Leipzig“, die „Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (Ortsgruppe Leipzig)“, „Wirmuesstenmalreden“ oder „LeDiasporique“. An der Seite weiterer städtischer Akteur*innen wie dem Jugendparlament, der Initiative „Leipzig Postkolonial“, dem Migrant*innenbeirat und „DecolonizeZoo Leipzig“ kämpfen sie gegen Kolonialrassismus im Zoo und fordern eine intensive Aufarbeitung der Geschichte – und Gegenwart.

„Dass der Leipziger Zoo überhaupt gegründet werden konnte, ist eng mit den Einnahmen aus sogenannten Völkerschauen verknüpft“, erklärt Caro. Auch sie habe erst vor wenigen Jahren erfahren, was das eigentlich war. Das Entsetzen darüber ließ sie tätig werden. So ging es auch Kalsoumy: „Viele hören davon zum ersten Mal. Das haben wir auch auf unseren Demos festgestellt.“ 

Kaum Wissen vorhanden

Mit der von Bismarck ausgerufenen Kongo-Konferenz in Berlin 1884 stieg die Regierung des Deutschen Reiches in die koloniale Aufteilung des afrikanischen Kontinents ein – nachdem private Kaufleute und Händler*innen strategisch wichtige Orte längst kontrollierten. Um der hiesigen Bevölkerung die Eroberungen schmackhaft zu machen, galten in Europa und den USA Ausstellungen angeeigneter Güter und Lebewesen als wirksames Mittel. So wurden insbesondere in Zoos nicht nur „exotische“ Tiere ausgestellt, sondern indigene und Schwarze Menschen vorgeführt. Pionier in Deutschland war der Tierhändler Carl Hagenbeck, der 1874 „Lappländer“ ausstellte und damit den Grundstein für eine klischeehafte Vermarktung legte. 

In Kulissendörfern wurde das vermeintliche Alltagsleben von Menschen zur Attraktion stilisiert. Die Darstellungen richteten sich stark nach dem europäischen Erwartungsbild und changierten zwischen Herabwürdigung und Romantisierung der „Ungezähmten, Wilden“. Oftmals wurden die Teilnehmer*innen der Schauen unter falschen Versprechungen angeworben, etliche entführt. Man missbrauchte sie als „Studienobjekte“, behandelte, entlohnte und versorgte sie schlecht. Viele erkrankten oder starben, Hunderte sind bis heute namenlos geblieben.

Auch im Zoo Leipzig machte der Gastwirt und Gründer Ernst Pinkert mit sogenannten Völkerschauen Kasse. „Bis heute hat keine Aufarbeitung dieses Kapitels der Geschichte stattgefunden“, kritisiert Kalsoumy. Das liege auch daran, dass der Zoo seine Archive nicht öffne. Noch dazu funktionierten heute ganz praktisch die gleichen Prinzipien wie im 19. Jahrhundert: Regelmäßig werden Veranstaltungen wie etwa „Hakuna Matata – Afrika live erleben“ angeboten. Ein weißes Publikum, prangert die junge Frau an, werde dabei in eine „fremde Welt“ entführt, indem es gegen Geld Schwarze und indigene Menschen und ihre angeblich typischen Rituale bestaunt. „Das ist eins zu eins das, was in sogenannten Völkerschauen passiert ist. Nur auf einer anderen Ebene.“

Zivilgesellschaft wirkt in die Kommunalpolitik

Auf Demonstrationen, Anfragen oder offene Briefe hätte die Zooleitung bislang mit Schweigen oder Abwehr reagiert. Es fehle die Bereitschaft, sich selbstkritisch mit dem Thema auseinanderzusetzen, meint Caro. Doch die anhaltende Kritik und der Protest lokaler Bündnisse haben bereits handfeste Veränderungen in Gang gesetzt. Kommunalpolitisch wurde ein Meilenstein durchgerungen: Bis zum Ende des Jahres 2022 muss der Zoo Veranstaltungen wie „Hakuna Matata – Afrika live erleben“, die asiatischen Sommernächte und „El Dorado“ inhaltlich überarbeiten.

Der Arbeitsauftrag an die Zoodirektion ist klar formuliert: Es sollen Formate etabliert werden, die keine Klischees und Stereotype zu den Kontinenten Afrika, Asien und Südamerika reproduzieren. Außerdem sollen Akteur*innen vor Ort – darunter die Universität, Vertreter*innen des Museums für Völkerkunde aber auch Mitglieder der Initiative „Leipzig Postkolonial“ – in die Neukonzeption und generelle Vergangenheitsaufarbeitung einbezogen werden. Diesen ersten Schritt in Richtung Dialog ermöglichte ein Antrag des Migrant*innenbeirats. Das Gremium brachte ihn im Mai 2022 in den Stadtrat ein. 

Einen Tag vor der Abstimmung erklärte „DecolonizeZoo Leipzig“ in einem gemeinsamem Statement mit der Bi_PoC Hochschulgruppe, der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“ (Ortsgruppe Leipzig) sowie „Leipzig Postkolonial“: „Wir protestieren gegen die ‚Distanzierung von Rassismus‘ eines Zoodirektors der offensichtlich nicht verstanden hat, wie Rassismus funktioniert. Statt einer floskelhaften ‘Distanzierung’ braucht es eine wirkliche Auseinandersetzung mit rassistischen Strukturen und Narrativen!“ Ergänzt wurde der Appell um die nachdrückliche Aufforderung aller Stadträt*innen, den Antrag zu unterstützen. 

Ihre eigene Rolle in diesem politischen Prozess reflektiert Caro dennoch zurückhaltend. „Wir haben für öffentliche, mediale Aufmerksamkeit gesorgt, den Protest auf die Straße gebracht und auch Pressemitteilungen verschickt – zum Beispiel an Stadträt*innen. Das hat eine Dynamik entfaltet, die sich mit dem ganz eigenen Vorstoß des Migrant*innenbeirats ergänzt hat.“ Es sei ein entscheidender Fortschritt, dass die Zooleitung nun gezwungen ist, das konstruktive Gespräch mit verschiedenen Akteur*innen wahrzunehmen. „Jetzt ist das Potenzial da, eine Problemeinsicht herzustellen. Und das ist der Ausgangspunkt für alles andere“, sagt sie.

Zuvor schaffte es bereits eine Debatte um die Ernst-Pinkert-Straße und eine kritische Einordnung seiner Person auf dem Straßenschild in den Stadtrat. Kleine und große Erfolge – initiiert aus der Zivilgesellschaft, wirksam in der Kommunalpolitik. Trotzdem hinterfragen die Aktivist*innen auch, inwiefern etwa das Veranstaltungsangebot überhaupt reformierbar ist: „Denn der Kontext bleibt, dass nur spezifische Menschengruppen und vermeintliche Kulturen im Zoo repräsentiert werden. Das ist und bleibt rassistisch“, so Caro. 

Zwingend: Bi_PoC am Prozess beteiligen 

Mit ihrem Bündnis DecolonizeZoo Leipzig setzen sich Caro und Kalsoumy dafür ein, dass die Bi_PoC-Community bei der zukünftigen Ausgestaltung des Zoos mitreden darf: Wie könnte ein ethischer Zoo aussehen – und geht das überhaupt? Wie kann ein Gedenken gelingen? Als vorbildliches Beispiel nennen die beiden die Ausstellung „Zurückgeschaut – Die Erste Deutsche Kolonialausstellung 1896 in Berlin-Treptow“. Es handelt sich um die erste Dauerausstellung zu Kolonialismus, Rassismus und Schwarzem Widerstand in einem Berliner Museum.

Dekolonialisierung bedeute aber nicht nur den Wandel von Machtstrukturen, sondern auch eine monetäre Umverteilung. „Durch die Öffnung der Zooarchive wäre es vielleicht möglich, Urenkel und Enkel ehemals ausgestellter Menschen ausfindig zu machen und zu entschädigen“, so Kalsoumy. Selbst eine Gedenktafel mit den Namen damals ausgestellter Personen sei ein wichtiger Schritt: „Es wäre ein würdevolles Entgegenkommen. Die Vergangenheit ändert sich dadurch nicht, aber es wäre eine Geste und ein Statement. Aber allein das ist sehr schwierig.“

Caro weiß, dass ein langfristiges Umdenken den langen Atem des Protestbündnisses braucht: „Schnelle Veränderungen sind es am Ende nicht.“ Und Kalsoumy stimmt zu: „Es wäre auch nicht hilfreich, wenn der Zoo von heute auf morgen einfach schließen würde. Da bliebe zu viel offen. Die Zoo-Begeisterten wären wütend und enttäuscht, Bi_PoCs würden zur Zielscheibe werden. Die Menschen sollten am Prozess teilhaben und ihn verstehen.“ Auf lange Sicht ist sie aber sicher, dass Zoologische Gärten der Vergangenheit angehören werden: „Wenn wir in hundert Jahren noch gut leben können – das bedeutet klimagerecht leben – dann müssen schon Schritte gegangen sein, mit denen ein Zoo nicht mehr existieren kann. Klimagerechtigkeit und Zoos – mit ihrer jetzigen Struktur und Mentalität – sind ein Widerspruch.“




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