Aus eigener Kraft

Enas Taktak will mit anderen Geflüchteten eine Stadt zum Besseren gestalten, die als rechter Hotspot in Brandenburg gilt. Täglich erlebtem Rassismus setzt sie mit ihrem Verein Geflüchteten Netzwerk Cottbus Empowerment entgegen. Ein andauernder Kampf für mehr Dialog. 


Für gewöhnlich sprudeln Jugendliche vor Gedanken, Ideen und Fragen, die einfach heraus müssen. Das Mitteilungsbedürfnis ist hoch, die Sprache oft ungezügelt. Das war auch bei Enas Taktak nicht anders. Allerdings: Mit 16 Jahren ist sie gezwungen, das Sprechen noch einmal neu zu lernen. Die Flucht ihrer Familie vor dem Krieg in Syrien bringt plötzlich eine Sprachlosigkeit in ihr Leben, die sie bis dahin nicht kannte. „Es ist als würdest du auf stumm gestellt, obwohl du viel zu sagen hast“, erinnert sich die junge Frau aus Homs an ihre Ankunft in Ostdeutschland 2014. Heute, acht Jahre später, möchte sie sich nicht lange an der Vergangenheit aufhalten. Sie schaut lieber voraus – auf Dinge, die sie noch ändern kann. Zum Beispiel im Leben von Menschen, die Hoffnung brauchen, wo andere Zweifel säen. 

Enas neuer, alter Lebensmittelpunkt ist Cottbus. Eine Stadt, die als rechte Hochburg im Osten gilt. Medien berichten von einer gut vernetzten Neonazi-Szene, das Ranking rechtsmotivierter Gewalttaten in Brandenburg führt Cottbus mit an. In diesem Umfeld als geflüchtete Frau eine Perspektive zu sehen, war „ein echter Kampf“, sagt Enas. Sie schüttelt den Kopf und nippt an ihrem Kaffee. Auf dem Tisch vor ihr liegen Buntstifte, Wasserfarben, weißes Papier.

Wenig später werden hier Kinder und Jugendliche aufmalen, von welcher Zukunft sie träumen. Sie ist bunter als der grau-verregnete Nachmittag draußen vor den Fenstern, wo sich Plattenbauten aneinanderreihen. „Noch heute machen sie ähnliche Erfahrungen wie ich als Schülerin. Wir arbeiten mit unserem Verein daran, dass sich das ändert“, erklärt die Studentin der Sozialen Arbeit. 

Aus Ohnmacht wird Mut

Anfeindungen auf der Straße, Rassismus in der Schule gehörten für sie und ihre zwei Schwestern zum Erwachsenwerden. „Ich hatte Lehrkräfte, die mir den Glauben an mich nehmen wollten. Einer meinte, dass ich mich gar nicht anstrengen bräuchte, da ich das Abitur sowieso nicht schaffen würde. Meiner Schwester wurde gesagt, dass sie das Kopftuch abnehmen soll, was eine krasse Grenzüberschreitung ist“, erzählt die 24-Jährige. Erlebnisse wie diese entfachen in ihr einen inneren Widerstand und sie sucht einen Ort, um Ohnmacht in Stärke zu wandeln.

Fündig wird sie 2019 beim Geflüchteten Netzwerk Cottbus e.V. Engagierte aus Syrien gründeten die Initiative 2017 unter Vorsitz von Nabil Abo Nasser. Zu Beginn unterstützt der Verein bei Behördengängen und Ämterschreiben, inzwischen ist er eine zentrale Anlaufstelle für migrantische Selbstorganisation und Bildungsarbeit. Nachhilfestunden, Sprachunterricht und Workshops gegen antimuslimischen Rassismus haben sich inzwischen fest etabliert. Alle Projekte verfolgen ein Ziel: Mut machen. „Meine größte Motivation ist es, geflüchtete Menschen zu empowern“, betont Enas. Und ihre Augen lachen. 

Kinder und Jugendliche stehen dabei besonders im Fokus. Zum Beispiel im Arabisch-Sprachunterricht. Das Projekt ermöglicht es, „Kindern aus Kriegsgebieten, die nur zeitweise ihre Heimat kennengelernt haben, die Kenntnisse in ihrer Muttersprache zu verbessern“, erklärt Enas. „Das ist auch wichtig, um den Austausch zwischen geflüchteten Kindern und ihren Eltern aufrechtzuerhalten.“ Außerdem festige sich über einen lebendigen Bezug zur Muttersprache die Identität junger Menschen, was wiederum das Selbstwertgefühl steigere.

Das Projekt wurde im August 2021 von der Jugendjury der Initiative JUGENDSTIL* für eine Förderung ausgewählt. Mithilfe von 1000 Euro durch den Ideenfonds hat das Geflüchteten Netzwerk in Cottbus diesen Unterricht realisiert. Darüber hinaus versteht es das Netzwerk gerade jetzt als drängende Aufgabe, negative Effekte der Corona-Pandemie abzumildern und Kinder und Jugendliche durch Bildung in ihrem Selbstvertrauen zu stärken. 

Während der Jahre 2020 und 2021 seien viele Schüler*innen mit Fluchtbiografie gleich durch mehrere Raster gefallen, analysiert Nachhilfelehrer Moussa Aldali. „Der Unterrichtsausfall hat viele zurückgeworfen, die es sowieso schon schwer haben.“ Zwei-, dreimal in der Woche übt der Informatikstudent im Einzel- oder Gruppenunterricht daher Deutsch und Mathematik mit Heranwachsenden. Klar ist: Es bräuchte noch viel mehr Stunden, so groß sei der Bedarf. Die Aufgaben im Homeschooling waren für viele nicht zu schaffen: „Teilweise konnten Eltern aufgrund sprachlicher Barrieren nicht helfen, manchen fehlte auch die technische Ausstattung, um überhaupt am Unterricht teilzunehmen.“ 

Kinder und Jugendliche stärken

Moussa hat seinen Fokus daher bewusst von Erwachsenenbildung auf Kinder- und Jugendarbeit verlegt – und aus einer Beratungsstelle für Geflüchtete zum Geflüchteten Netzwerk Cottbus. „Mir ist aufgefallen, dass Kinder aus migrantischen Familien mehr Verantwortung tragen, als sie sollten. Sie übersetzen die Briefe von Ämtern, weil sie besser Deutsch verstehen als ihre Eltern. Aber sie können das nur bedingt, sie sind ja Kinder!“ In dieser Situation zumindest etwas zu unterstützen, treibe ihn an. 

Neben der praktischen Hilfe mit dem Unterrichtsstoff klärt das Geflüchteten Netzwerk auch über das deutsche Schulsystem auf. Für Enas und ihre Schwester ist das Projekt „Fit for Schule“ ein Herzensanliegen. Und ein Schlüssel für Bildungserfolg. Hier werden Eltern und Schüler*innen über Schulformen, Wahl- und Pflichtfächer sowie das Notensystem aufgeklärt. „Auch welcher Abschluss zu welchem Berufswunsch passt, spielt eine Rolle. Dieses Wissen ist unheimlich wichtig“, sagt Rama Taktak aus eigener Erfahrung. „Ich hätte mir diese Informationen gewünscht, als wir 2014 hier angekommen sind. Aber niemand hat uns das erklärt. Der Start ist deshalb sehr schwer und kann zu falschen Entscheidungen führen.“ 

Von Grundlagenarbeit wie dieser profitiert Cottbus heute. Menschen, die aktuell vor dem Krieg aus der Ukraine fliehen, werden mit dem Projekt über Bildungswege informiert; die Kooperation mit dem Fachbereich Integration und Bildung der Stadtverwaltung ist gefestigt. Enas macht all das stolz, und trotzdem spricht sie immer bescheiden über ihr Engagement.

In der großteils ehrenamtlich organisierten Arbeit ist sie als Einzige über einen Minijob finanziert. „Wir vereinfachen das Leben ein klein wenig. Das ist viel wert. Geflüchtete bringen Traumata mit, haben vielleicht Angehörige verloren und schlimme Dinge erlebt. Sie zu unterstützen, statt zu überfordern, sollte gesellschaftlicher Konsens sein.“ 

Einen Teil zur Selbstermächtigung trägt das Geflüchteten Netzwerk bei. In Coachings und Erzählcafes ermutigen Menschen wie Enas, Rama und Moussa, erlebte Diskriminierung zu teilen, die Stimme zu erheben und Verbündete zu suchen. Nur so könne gesamtgesellschaftlich etwas in Bewegung geraten, erklärt Enas: „Empowerment bedeutet, dass Menschen erkennen, dass sie die Kraft haben, ihr Umfeld zu gestalten. Dass ihre Stimme wichtig ist und sie selbst Visionen zur Zukunft von Cottbus entwickeln können.“ Das gelinge jedoch nur, wenn die eigene Persönlichkeit gefestigt ist. Und gerade damit kämpfen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten: Eine starke Zerrissenheit zwischen verschiedenen Mentalitäten, Werten und Sprachen präge den Alltag. 

Auf die Frage wie sie all das leistet, antwortet Enas mit großen Augen. „Es macht Spaß zu sehen, dass wir wirklich etwas erreichen, dass unsere Arbeit etwas ausmacht im Leben von Menschen.“ Die Kraft habe sie von ihrer Mutter. Sie sei ein Vorbild, wenn es darum geht, Dinge in die Hand zu nehmen – und gründete selbst einen Frauen-Kulturverein in der Stadt. „Das war und ist sehr inspirierend. Es hat mich gelehrt, dass ich nie aufgeben darf.“ Ihre Zukunft sieht Enas weiterhin in Cottbus. „Auch wenn es Zeiten gab, in denen ich weg wollte, schlägt mein Herz heute hier.“ Und der Wille zur Veränderung, zur (Mit-)Gestaltung einer Stadt. 




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