Heimathafen

Mohammad Aman Anosh aus Afghanistan ist ein Netzwerker. Mit dem Projekt „Jugend spricht“ hat er es sich zur Aufgabe gemacht, geflüchteten Menschen einen freundlichen Start in Rostock zu bereiten. Alltagsproblemen setzt er Empowerment-Trainings entgegen. Und poliert so das Image einer Stadt auf.


Dass Mohammad Aman Anosh in Rostock angekommen ist, merkt er an der kühlen Küstenbrise. Wenn seine Gäste fröstelnd die Jacke zuziehen und schimpfend den Kragen hochklappen, steht er lächelnd im Shirt daneben: „Das ist doch noch kein Wind!“ Das Meer war für den jungen Mann, der sich selbst nur Anosh nennt, etwas komplett Neues. Ebenso wie die Beschaulichkeit der Hansestadt. Denn er stammt aus Kabul. Über vier Millionen Menschen leben in der schnell wachsenden Großstadt auf 1807 Metern über dem Meeresspiegel: „Es gibt kein Flachland in Afghanistan“, sagt er. 

Anosh musste 2015 aus seiner Heimat fliehen – über mehrere Wochen. Zu Fuß, mit dem Auto, einem Boot. Die Ankunft in Deutschland bedeutete für ihn allerdings mitnichten angekommen zu sein. „In Afghanistan hatte ich eine eigene Firma“, blickt der studierte Kaufmann für Büromanagement zurück. Seine Dokumente allerdings erkannten die deutschen Universitäten nicht an. Er musste komplett von vorn anfangen, eine Ausbildung beginnen.

Erst der Tipp eines Bekannten wurde für ihn zu einem goldenen Schlüsselchen: Anosh erfuhr von einem Programm, das zwischen Studierenden aus dem Ausland und deutschen Universitäten vermittelte. Über diesen Weg wurde tatsächlich nach knapp drei Jahren sein Bachelor-Abschluss anerkannt. Er schickte Bewerbungen nach Koblenz, Berlin, München … Von überall erhielt er Zusagen. Seine Wahl fiel auf Rostock – und einen Master im Dienstleistungsmanagement. Damals ahnt Anosh nicht, dass seine Entscheidung für viele Menschen ebenfalls zu einem goldenen Schlüsselchen werden soll.

Dass Rostock „nicht nur Lichtenhagen“ sei, habe er sich Stück für Stück erschlossen, erzählt er heute mit seinem typischen sanften Lächeln. „Die KTV heißt hier sogar ‚kleines Berlin‘“, berichtet er über den Szene-Kiez Kröpeliner-Tor-Vorstadt. Was ihm immer wieder half, hier ein Zuhause zu finden, sei der Kontakt zu Menschen gewesen: Beisammensein, Austausch. „Ich finde es schade, dass so viele Menschen nicht aufgenommen werden. Von Deutschland, von Freundeskreisen, im Beruf. Sie bleiben draußen oder unter sich.“ Daraus entstünden Einsamkeit, Frustration und Gräben. „Ich kann gut mit Menschen umgehen, ich mag es zu kommunizieren und Freundschaften zu bauen“, beschreibt Mohammad seine Gabe zu netzwerken – und anderen Zuversicht zu schenken. Auch im Unikontext. 

Ein Netzwerk, das empowert 

Mit dem Studienstart beginnt er im Newcomer-Café zu arbeiten; ein Treffpunkt für Zugezogene. Schell begegnen ihm hier die immer gleichen Fragen: „Wie hast du das gemacht? Wie war dein Weg? Das wollten viele wissen.“ Da sei ihm klar geworden, dass der Community der Wissensaustausch fehle. 2019 gründet er deshalb gemeinsam mit anderen internationalen Studierenden die Initiative „Jugend spricht“. Aus einer Info-Veranstaltung zu Ausbildung und Studium werden monatliche Zusammenkünfte, bei denen Menschen aus Afghanistan, Palästina, dem Irak, Syrien, Iran, Somalia, dem Jemen zusammenfinden – bis zu 50 Interessierte pro Treffen. Ein spontaner Impuls, der sich heute in der Stadtgesellschaft und darüber hinaus verfestigt hat.

„Wir wollen Tipps geben, wie Zugezogene ihren eigenen Weg gehen können“, erklärt Anosh. Das Credo der Initiative: „Wir haben etwas zu sagen. Wir wollen unsere Geschichte erzählen!“ Zum Programm gehören auch „Empowerment-Trainings gegen Rassismus“. Sie werden vom Ideenfonds von JUGENDSTIL* unterstützt, der Personen mit internationaler Geschichte bei der Umsetzung eigener Ideen fördert.

Darüber hinaus finanziert sich das Projekt aus Spenden und privaten Mitteln. Eine Vereinsform haben alle Mitwirkenden bislang bewusst vermieden, erklärt Anosh, der sein Engagement mittlerweile neben einem Job im Eine-Welt-Landesnetzwerk betreibt. Das freiwillige Gefüge solle nicht von Bürokratie und festen Funktionen belastet werden. Ihm liegt vor allem die persönliche Ebene am Herzen: „Ich bin nicht der Typ für lange E-Mails, ich gehe direkt auf Menschen zu und rede mit ihnen.“ Und so kommt es, dass er leere Teilnahme-Listen bei Workshops füllt, indem er Interessierte noch einmal persönlich anruft und sagt: „Hey, komm vorbei. Das wird gut!“ 

„Jugend spricht“ ist zu einem festen Ankerpunkt nicht nur in Rostock, sondern in ganz Mecklenburg-Vorpommern geworden und leistet Demokratiearbeit. „Wir geben Interessierten in Schulungen auch pädagogische Methoden zur politischen Bildungsarbeit mit“, sagt der Gründer. In Kooperation mit der französischen Stadt Dunkirk ermöglichte die Initiative zehn Geflüchteten eine fünftägige Bildungsreise an diesen geschichtsträchtigen Ort. „Und wir stehen auch mit Studierenden aus Belarus in Kontakt, um das wieder anzubieten.“ 

Vor allem ein Projekt hat in den vergangenen Monaten an ihm gezehrt. Es ist eine Ausstellung, die er gemeinsam mit seiner Schwester und „Jugend spricht“ realisiert hat. Hafiza Qasimi ist Aktivistin, Künstlerin, Galeristin. Bis vor Kurzem lebte sie in Kabul. Doch seit dem Ausbruch der Terrorherrschaft der Taliban im August 2021 fürchtet die 23-Jährige um ihr Leben. Inzwischen konnte sie in den Iran fliehen – nachdem ihre Galerie in der afghanischen Hauptstadt von den Taliban zerstört und ihre Kunstwerke mit Messern zerschnitten wurden. Sie selbst sagt, das Leben fühle sich seitdem wie gelähmt an. „Wir haben in dieser Zeit viel telefoniert und über ihre Zerrissenheit gesprochen“, sagt Anosh.

„Sie müssen verstehen: Es gibt viele mutige und starke Frauen, die in Afghanistan ihre Stimme erheben – für Freiheit, für Frauenrechte, freie Entfaltung und eine Zukunft für die Kinder, vor allem die Mädchen. Sie protestieren auf den Straßen und setzen sich dabei jede Minute der Gefahr aus, getötet, erschossen zu werden. Das ist kaum zu ertragen.“ 

„Kunst inmitten des Krieges“

Aus den Gesprächen zwischen den Geschwistern erwächst eine Idee: Mit fünf anderen Künstlerinnen beginnt Hafiza noch einmal zu malen. Um Dinge zu verarbeiten, um Sichtbarkeit zu schaffen und die Lebensrealität in Afghanistan künstlerisch zu dokumentieren. Woher sie die Kraft dafür nimmt, erklärt Anosh so: „Jeder Mensch träumt von Freiheit. Diese Frauen setzen sich seit Jahren mit ihrem Leben dafür ein.“ Es sei wie ein innerer Drang, Widerstand zu leisten. Ihre Bilder zeigen die Wünsche junger Frauen, ihre Visionen einer freiheitlichen Gesellschaft – und im Kontrast dazu die Realität unter den terroristischen Taliban. „Wir haben arrangiert, dass diese Bilder professionell fotografiert wurden. Und nach und nach kam uns der Gedanke, diese Kunst in Deutschland zu zeigen.“

Die Originale verbrannte Hafiza nur eine Woche nach ihrem Entstehen zum Selbstschutz; die Fotokopien sind kurze Zeit später mit der Unterstützung durch den Ideenfonds von JUGENDSTIL* in einer ersten Ausstellung in Rostock zu sehen. Unter dem Titel „Kunst inmitten des Krieges“ gastiert die Schau darauf in ganz Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg. 

Anosh berührt diese Geschichte im Innersten. Und die Botschaft, die von dem Projekt ausgeht: „Wir wollen der Welt zeigen, dass die afghanische Gesellschaft Solidarität braucht. Wir setzen ein Zeichen, damit diese Menschen nicht vergessen werden.“ Auch für seine Schwester kämpft er, will sie nach Deutschland holen und in Sicherheit wissen. Doch aus behördlicher Sicht dürfe sie über den Familiennachzug nicht einreisen, weil sie nicht zu seiner Kernfamilie gehöre. Ein Studienvisum setze wiederum eine Krankenversicherung, eine eigene Wohnung und 10.000 Euro auf einem Bankkonto voraus. Dinge, die Hafiza nicht vorweisen kann. „Ich versuche jetzt, über die deutsche Botschaft in Teheran weiterzukommen“, meint Anosh. 

Für ihn persönlich haben die letzten Wochen neben diesen Sorgen auch eine eigentlich erfreuliche Nachricht gebracht: Die Behörden attestieren dem jungen Mann eine „gute Bleibeperspektive“. Endlich darf er sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten. „Das bedeutet, ich kann jetzt reisen. Ich bin frei.“ Ein beflügelndes Gefühl. Inzwischen hat er sich ein Auto zum Camper ausgebaut; Anosh liebt es zu wandern. „Ich habe den Spitznamen ‚Bergziege‘ von meiner Freundin bekommen“, gesteht er lächelnd und bemerkt weise: „Es ist wichtig, das Leben auch zu genießen.“ Rostock nennt er – bei aller Sehnsucht nach Afghanistan – mittlerweile Heimat. Ein Empfinden, das er an andere weitergeben möchte. 




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