Ausdruck finden

Redaktionen, Verlage und Buchläden sollten längst diverse Perspektiven unserer Gesellschaft spiegeln und fördern. Doch die Realität ist eine andere. Eine weiße, die Bi_PoC-Stimmen unsichtbar macht. In Leipzig arbeiten junge Menschen engagiert dagegen: Ihr Magazin „narratif“ zeigt, wie visionäre Medien aussehen können. 


Dazwischen. Ein Wort wie ein beiläufiger Blick durchs Schlüsselloch. Und ein Trigger. Ungeahnt offenbart sich dahinter eine Welt individueller Geschichten, Emotionen und Identitätsbrüche, die Menschen erleben, die sich als Schwarz, jüdisch und oder (post-)migrantisch identifizieren. Von schmerzhaften Erfahrungen erzählen sie jetzt in einem neuen Magazin. Der Titel: „narratif“. Das Leitthema der ersten Ausgabe: „Dazwischen. In Between“. Also so wie die Macher*innen selbst.

„Ich glaube, als (post-)migrantische Person oder Person in der (Post-)Diaspora ist dieses Gefühl immer da. Dazwischen und fluide zu sein, keiner Position vollends zuzugehören. Egal ob in Bezug auf ethnische Zugehörigkeit, Sexualität, Sprache oder Religion“, meint Gonca Sağlam. Wenn sie mit Sicilia Shehata und Sam Gurwitt die redaktionelle Arbeit der letzten Wochen reflektiert, schiebt sich vor allem ein Gefühl vor alle anderen: Überwältigung.

„Das betrifft die vielen Zuschriften von Autor*innen, die wir bekommen haben und den berührenden Ton ihrer Beiträge“, erklärt Sam und Gonca ergänzt: „Menschen teilen mit uns sehr persönlich die Aufarbeitung der eigenen oder familienbiografischen Migration, ihre Erfahrungen als queere Person in Deutschland oder Erlebnisse mit Rassismus. Das ist emotional extrem beanspruchend und gleichzeitig sehr kraftvoll.“ Immer wieder habe sie beim Lesen Gänsehaut bekrochen, manches Mal stiegen ihr Tränen in die Augen. „Einige Beiträge haben mich tagelang beschäftigt und alle haben mich zum Nachdenken angeregt“, meint auch Sicilia. Teil dieser Geschichte von Selbstermächtigung zu sein, mache sie „ einfach nur glücklich und dankbar“. 

Die Studentin der Kommunikations- und Medienwissenschaften sitzt mit übergeschlagenen Beinen im Plattenladen und Café Vary auf der Leipziger Eisenbahnstraße. Schon oft haben hier Redaktionssitzungen remote stattgefunden. Der Blick heftet am Laptopbildschirm, die Finger scrollen durch den PDF-Dummy, der im Oktober 2022 endlich gedruckt wird. Via Video-Call ist der Rest des Teams zugeschaltet; letzte Arbeitsaufträge werden verteilt: Fehlen Texte? Braucht es noch Rücksprachen mit Autor*innen? Passt das Layout? Hier arbeiten alle nicht nur an einem ästhetisch wie inhaltlich bemerkenswerten Heft. Es geht auch darum, die deutsche Medienlandschaft zu konfrontieren. „narratif“ benennt eine Leerstelle im Literatur- und Kunstbetrieb und schließt sie: Perspektiven von Bi_PoC werden sichtbar gemacht. 

Erfahrungsarchiv von und für Bi_PoC 

„Wir leben nach wie vor in einer weißen Dominanzgesellschaft – davon sind die Literatur- und Kunstbranche nicht ausgenommen“, unterstreicht Gonca. „Das Verständnis von Wissen ist in Deutschland weiß, akademisch und sehr exklusiv gestaltet.“ Als Journalistin arbeitet sie für das Magazin renk., das von und für People of Color Themen wie Diversität, Anti-Rassismus und LGBTQI+ thematisiert. „Wir wollen mit ,narratif‘ einen Ort schaffen, an dem Bi_PoC ungefiltert Präsenz und Ausdruck finden. Einen Ort, an dem ihre Erfahrungen kollektiviert und vor allem auch archiviert werden.“ 

Zum Beispiel die von Hazar Oghan, kurdisch-alevitische Berlinerin, Doktorandin an der Universität Genf im Bereich der Neueren deutschen Literaturwissenschaft. Unter dem Schlagwort „Rant/Anklage“ erzählt die 27-Jährige auf mehreren Heftseiten, wie sich das Leben in Deutschland anfühlt, wenn es von Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes abhängt: „Niemand weiß, was diese Zahl bedeutet, die von nun an meinen Körper diktiert. Es ist ein Prozess der Dehumanisierung, der mich langsam zu dieser Nummer, dieser Zweiundzwanzig verwandeln lässt. Ich löffle das Armutszeugnis der Moderne. Es schmeckt nach Gewohnheit und Täuschung.“ (Ein-)Blick in menschliche Seelengründe, in Ohnmacht und Kämpfe, denen so oft mit Ignoranz begegnet wird. Eine kraftvolle Geschichte aus dem Redaktionsteam, die nun Platz und Gehör findet. 

Die Idee für „narratif“ nimmt 2021 ihren Anfang, inmitten der Leipziger Plattenbausiedlung Grünau. Hier hat das Stadtteilprojekt „Perspectives“ seinen Sitz. Die Initiative richtet sich mit Kreativangeboten an junge Menschen, die sich als migrantisch, Schwarz oder jüdisch identifizieren – beziehungsweise als migrantisch markiert werden. Projektleiterin Yasemin Said ermittelte 2021 in einer Umfrage, welche Angebote sich Menschen im Viertel wünschen. Das Ergebnis unter anderem: ein Magazin als Sprachrohr. Auch Yasemin ist Teil der „narratif“-Redaktion, Sicilia hat die Redaktionsleitung inne. Überrascht hat die 24-Jährige der Wunsch nach einem Print-Angebot nicht. „Unsere Hauptmotivation war es, eigene Texte, Analysen, Essays, Gedichte, Fotostrecken abzudrucken. Dieser Community-Gedanke hat, denke ich, viele Menschen angezogen, weil sie sich bei uns selbst ausdrücken können.“

Via Social Media initiierte das Team zwei Open-Calls mit dem Aufruf, Beiträge einzureichen. Rund 60 Zuschriften aus Deutschland und Österreich gingen ein, über die Hälfte haben es in das rund einhundertseitenstarke Heft geschafft. Hinter den neon-knallig gesetzten Seiten der Grafikerin Aditi Singh verschwindet ein intensiver Arbeitsprozess. „Wir haben Korrekturen immer direkt mit den Autor*innen abgestimmt, uns bei Übersetzungsfragen ausgetauscht oder gefragt, ob die Art des Layouts so gefällt“, erklärt Sam, der als freiberuflicher Journalist aus den USA derzeit in Leipzig arbeitet. Der Austausch auf Augenhöhe sei der Selbstanspruch, die Identität des Magazins, sagt er. „Wir wollen die Positionen unserer Autor*innen wahr- und ernstnehmen. Das leitet uns an.“ Und setzt einen Kontrapunkt in der Medien- beziehungsweise Literaturlandschaft. 

Rassismus im Literaturbetrieb 

Die Debatte um fehlende Diversität in der Branche wird inzwischen intensiver geführt. Zuletzt benannte ein offener Brief anlässlich der Verleihung des Leipziger Buchpreises 2021 Probleme: Im deutschen Literaturbetrieb „gibt es ganz offensichtlich eine institutionelle Struktur, die Schwarze Schriftsteller:innen und Schriftsteller:innen of Color ausschließt. Kulturelle Institutionen, die fast ausschließlich weiße Autor:innen auszeichnen, verhindern die Weiterentwicklung der vielfältigen Kunst- und Literaturszene in Deutschland.“ Unter den Forderungen: mehr Stipendien und finanzielle Förderung für Schwarze Autor*innen of Color und neue Juror*innen, die den Blick für diverse Literatur weiten. 

Zum Rassismus im Literaturbetrieb melden sich immer wieder auch Schriftsteller*innen zu Wort. Etwa Ronya Othmann im Zuge des #MeTwo-Diskurses. 2018 schrieb sie in der ZEIT, manchmal werde sie für ihren „Hintergrund“ beneidet: „Das ist doch jetzt gut für dich, sagt eine Kollegin, dass Syrien, die Jesiden und die Kurden in den Tagesthemen sind, dann kannst du deine Texte sicher gut verkaufen. Ich sage nichts und denke mir, wie toll, wenn deine ezidisch-kurdische Familie im Irak und in Syrien vor einem Genozid fliehen muss, wenn sich jetzt Verlage für meinen Roman interessieren.“ Es sind Verletzungen, die meist unreflektiert bleiben.

Für Gonca Sağlam ist das eine der größten Schwierigkeiten überhaupt: „Es kann nicht immer eine kleine Bi_PoC-Community auf die weiße Dominanzgesellschaft einwirken und über rassistische, diskriminierende Denk- und Verhaltensmuster aufklären.“ Um eigene Rassismen aufrichtig aufzuarbeiten, brauche es einen weißen Willen, sagt sie. Nur so werde sich die bestehende Parallelisierung zwischen weißen und Bi_PoC-Räumen vielleicht irgendwann wandeln. Den Support konzentriere die „narratif“-Redaktion deshalb auf ihre Community. Unterstützt wird sie dabei unter anderem finanziell durch den Ideenfonds von JUGENDSTIL* – ein Projekt, das jungen Migrant*innen in Ostdeutschland Teilhabe und Mitgestaltung ermöglicht.

Mit Lesungen und Podiumsdiskussionen trägt das Team zum Empowerment diverser Perspektiven in Literatur und Kunst bei. Nicht nur das Magazin solle bewusst machen, „dass die deutsche Sprache nicht ausschlaggebend ist, um sich mit eigenen Texten in Literaturkreise zu begeben“, erklärt Sicilia. „Wir schaffen ganz konkret Dialogräume, in denen die sogenannte Hochkultur hinterfragt wird und Denkmuster und Strukturen aufgebrochen werden.“ All das seien kleine Meilensteine auf dem Weg zu einer größeren Vision. Ihre Utopie einer besseren Literatur- und Kunstszene beschreibt sie als niedrigschwellig, inklusiv und barrierearm. „Ich stelle mir gar nichts Unerreichbares vor“, sagt sie. „Sondern einfach nur einen Austausch auf Augenhöhe. Mit allen Menschen.“




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