Stimmen im Kopf

Wenn beim Laufen Geschichte erfahrbar wird: Mit dem Hör-Spaziergang „Safe Harbour“ ermöglicht die Theatergruppe Reclaim eine interaktive Begegnung mit Wismars Stadthistorie. Auf den Spuren der Migration bewegen sich Teilnehmende durch die Straßen – und in skurrile Situationen. 


Die Marienkirche in Wismar ist eine Sehenswürdigkeit, die sich vor allem dadurch auszeichnet, das nicht mehr viel von ihr übrig ist: Ihr Schiff – im Zweiten Weltkrieg schwer getroffen – wurde 1960 gesprengt. Ihr Turm aber überragt noch immer die Stadt. Wer den Kopf in den Nacken legt und hinaufschaut, kann die weiten Wölbungen der ehemaligen Halle im Geist wiederauferstehen lassen. In diesem unsichtbaren Kirchenschiff fallen an diesem Sommertag 18 Menschen auf. Sie sitzen auf den Überresten tragender Säulen, umrunden in sich selbst versunken den Platz, wo wohl einmal das Taufbecken platziert war. Oder schreiten durch den ehemaligen Mittelgang. Was sie eint, ist Schweigen.

Mit Kopfhörern auf den Ohren lächeln sie einander gelegentlich zu. Plötzlich beginnen sie sich zu ordnen. Langsam bilden sie einen Kreis und machen, wie auf ein geheimes Zeichen hin, Schritte aufeinander zu. Aus einer losen Ansammlung von Menschen wird ein Schwarm – unter den Blicken der Umstehenden. 

„Recherchebasiertes, interaktives Dokumentartheater im öffentlichen Raum“, nennen es Marius Zoschke, Wanda Drabon und Marie Pooth von der Theatergruppe Reclaim, wenn sie Menschen auf ihrem Stadtspaziergang „Safe Harbour“ durch Wismar führen. Kurz gesagt bedeutet das: zuhören, laufen und mitmachen. „Wismar ist mehr als Kirchen und Backstein“, sagt Marius, der von hier stammt. Mittlerweile lebt und arbeitet er in Berlin.

Seine Heimatstadt liegt ihm aber noch so am Herzen, dass er sie zur Bühne macht. Doch nicht das übliche „Touri-Programm“ bekommen die Gäste bei diesem Audiowalk auf die Ohren: Das Team von Reclaim hat sich durch 80 Jahre Migrationsgeschichte gewühlt und eröffnet einen so ungewöhnlichen wie brennend aktuellen Blickwinkel auf die Stadt als Hafen.

Wismar – ein sicherer Hafen? 

Während die akustisch gekoppelte Reisegruppe sich ihren Weg entlang alter Mauern und nickender Malven sucht, dringt die Stimme von Marius’ Großmutter durch die Lautsprechermembran. Sie floh damals aus den ehemaligen Ostgebieten, erzählt von der Unterbringung im Gutshaus eines Großgrundbesitzers, der Suche nach Beeren und Weizenkörnern gegen den Hunger, von Sehnsucht und ewig Verlorenem. „Diese Stadt hier war schon immer von Migration geprägt“, erklärt Marius. „Das möchten wir verdeutlichen.“

Umgesetzt werden konnte der ungewöhnliche Stadtspaziergang unter anderem durch Förderungen des Ideenfonds von JUGENDSTIL*, der GLS Treuhand sowie der Stadt Wismar. Und so werden die Teilnehmer*innen auf die Reise geschickt: In die Zeit der Abertausenden fliehenden Menschen im Zweiten Weltkrieg, die Unterbringung von Gastarbeiter*innen, die Ankunft der jüdischen „Kontingentflüchtlinge“ in den Neunziger Jahren bis zum reibungsreichen Empfang von Syrer*innen 2015. Immer bleibt das Erzählte konkret, denn es berichtet ein Mensch. „Wir wollten erkunden: Ist Wismar ein sicherer Hafen“, sagt Marius.

Zur Vorbereitung bedeutete das intensive Gespräche mit Migrant*innen: 30 Stunden hat die Gruppe aufgezeichnet. „Wir haben ehrenamtliche Stellen angesprochen und nach Kontakten gefragt.“ Wanda und Marius seien tief bewegt gewesen von der Offenheit und dem Mut der Erzählenden. „Für viele war es eine Überwindung für die Aufnahme deutsch zu sprechen“, erklärt Marius. Doch letztlich hätten alle Scham und Unsicherheit hinter sich gelassen. „Alle waren unheimlich stolz und aufgeregt, sich selbst zu hören“, sagt er. Marie hatte die Aufgabe, die Aufnahmen zu sichten: „Ich hatte nachher das Gefühl, die Menschen richtig gut zu kennen, obwohl ich sie noch nie getroffen hatte.“ 

Zwischenstation auf dem Marktplatz: Neben Wasserkunst und Rathaus werden die Teilnehmer*innen angeleitet, sich in drei Gruppen zu teilen und hintereinander aufzustellen. So entstehen Menschenlinien, die Gesichter einander zugewandt, angeordnet wie die Striche in einem Peace-Zeichen. Passant*innen bleiben neugierig stehen, schütteln mit dem Kopf oder knipsen. Die Szene sorgt für Irritationen – und tatsächlich fühlt es sich seltsam an, stumm und unverstanden in einer fremden Stadt zu stehen, die Arme zu heben und zu senken und – wie die Stimme im Ohr sagt – damit gemäß der Choreografie eines traditionellen vietnamesischen Tanzes eine „menschliche Blume“ zu bilden.

„Ist das überhaupt Theater?“ Dieser Frage mussten sich Wanda, Marie und Marius öfter stellen. Mit den Armen schwingend in der historischen Altstadt Wismars stehend, fühlt sich die Antwort sehr nach „Ja“ an. Und ebenso später, im Hafen, an der Kante des Hafenbeckens nebeneinander aufgereiht, den Blick zum Horizont gerichtet, die Hände zu einem Fernglas geformt. Auch bei wortlosen Gruppen-Abstimmungen über den weiteren Verlauf der Route durch die Wahl des eigenen Standortes auf dem rundgetretenen Kopfsteinpflaster, wird klar: Es gibt bei allen diesen Handlungen ein Publikum.

Die Blicke kitzeln auf der Haut. Die Kopfhörer machen zur Gemeinschaft, sie schweißen zusammen, grenzen ab. Ist es möglich, unbeschwert voranzuschreiten unter so vielen Blicken? Beflügeln sie sogar? Wollen sie eine Antwort – haben sie überhaupt gefragt? Die Gedanken spinnen sich wie Fäden. „Dadurch, dass es interaktiv ist, ist es auf jeden Fall theatral. Die Menschen werden angeleitet, Aktionen auszuführen. Und es findet im öffentlichen Raum statt. Wir haben immer eine Zuschauersituation“, sagt Marie. 

Öffentlicher Raum wird zur Bühne

Die Interaktion breitet sich wellenförmig aus: Von den Erzähler*innen zu den Teilnehmer*innen zu den Umstehenden und zurück. Wie fühlt sich das an, fortzumüssen? Sich nicht frei bewegen zu können? Eine Sprache zu lernen? Angestarrt zu werden? Unbeirrt an etwas zu glauben? Einen Weg mit unbekanntem Ziel zu gehen? Wie wird aus einer Zuflucht ein Zuhause? Reclaim markieren mit ihrem Audiowalk Orte als Sehenswürdigkeiten, die Wismar ausmachen und dennoch auf keiner Postkarte abgedruckt sind: Die Geflüchtetenunerkunft Haffburg, das Bekleidungsgeschäft von Frau Nguyen, die bunten Graffiti-Wände jenseits der Bahngleise.

Und sie machen Menschen bekannt, die als unscheinbare Prominente die Stadt prägen: Melake, Alaa, Ingrid, Zahra, René, Maryana. „Reclaim bedeutet zurückfordern, zurück erobern. Das ist es, was wir tun: Wir machen den öffentlichen Raum zu einer Bühne für die Menschen, die darin leben“, sagt Marius. 

Knapp fünf Kilometer schlängelt sich der Audiowalk durch die Straßen. Dazwischen gibt es kleine Ruhepausen auf einem Spielplatz, im Park. Nach zwei Stunden glühen die Ohren und auch die Füße. Was bleibt von den vielen Eindrücken? Es ist das, was Sandra Rieck, Leiterin des Vereins Das Boot in Wismar, in einem Beitrag über die Aktion beschrieben hat: Das „Hallo-Gefühl“. Gemeint ist die Selbstverständlichkeit, auch Unbekannte auf der Straße zu grüßen, sei es mit einem Lächeln, einem Nicken oder einem Wort.

Die Bereitschaft, Neues zu erfahren und dabei etwas von sich preiszugeben. „Seit der Recherche zu ‚Safe Harbour‘ halte ich einen Plausch an so vielen Straßenecken“, bestätigt auch Marius. „Ich habe meine Stadt ganz neu entdeckt.“ Auf dem Audiowalk werden Gäste in das Stadtbild hineingewebt: Als wiederkehrender Gruß winkend vor dem Geschäft von Thi Hai Yen Nguyen. Oder als „menschliche Blume“ auf dem Marktplatz.




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