Zusammen Zukunft bauen

Neuer Impuls für die Kinder- und Jugendarbeit: In der traditionsreichen Pfadfinder*innenbewegung steht die bedürfnisorientierte Arbeit mit jungen Menschen nicht zwangsläufig vorn an. In Halle lebt deshalb eine Initiative modernes Scouting vor – zwischen Wertewahrung und Neuverortung. 


Ein blütenweißes Hemd mit gesteiftem Kragen, knitterfrei und ordentlich: In seinem Outfit fällt Mohammad Ahmad auf. Vor allem im bunten Stadtteilhaus mit Jugendclubcharme, durchgesessener Sofaecke und selbstgebauten Möbeln. Seine Hände verschwinden im Rucksack und suchen nach dem entscheidenden Accessoire, das fehlt: keine Krawatte, sondern ein rotes Dreieckstuch. Eilig zieht er es heraus, rollt das Stück Stoff zusammen und legt es um den Hals. Zwei, drei Routinehandgriffe. Unter dem Kinn überkreuzt er die Enden und verschließt sie mit einem Button. Darauf prangt ein Zelt unter Sternenhimmel-Halbmond. Mohammad blickt auf und lächelt. Jetzt fühlt er sich komplett. Komplett als Pfadfinder. 

Der 23-Jährige sitzt in der Passage 13 und wartet auf die anderen. Gemeint sind damit bis zu 35 Kinder und Jugendliche, die sich hier mindestens einmal in der Woche treffen. Wenn dann aus beherrschter Erwachsenen-Ruhe binnen Sekunden ansteckendes Kinderlachen wird, ist die noch junge Pfadfinderbewegung „Scout Spirit“ aus Halle ganz bei sich. „Bei uns engagieren sich junge Leute zwischen 6 und 18 Jahren mit arabisch geprägter Biografie. Sie sind entweder in erster Generation in Deutschland geboren oder migriert – so wie ich“, erzählt Mohammad.

2015 sucht er mit seinen Eltern und den zwei Brüdern in Deutschland Schutz vor dem Krieg in Syrien. Die Reise dauert über einen Monat, doch das Ankommen teilweise bis heute. Diese Erfahrung teilt er mit vielen „Scout-Spirit“-Mitgliedern. Und sie war einer der Gründe, die Gruppe aufzubauen: die (post-)migrantische Gemeinschaft stärken, einen Platz in dieser Gesellschaft finden. Aber warum gerade als Pfadfinder*innen?

Pfadfinderei neu denken

„Ich habe dazu einen engen familiären Bezug“, erzählt Mohammad. Sowohl sein Vater als auch sein Onkel waren in Syrien in diesen Strukturen aktiv. „Sie haben uns viel erklärt. Der Mix aus Natur und sozialem Engagement hat uns gefallen“, erklärt er. Wobei: In Syrien sei die Bewegung eher militärisch organisiert. „Damit können wir nichts anfangen.“ Zwar spielen die Aktiven von „Scout Spirit“ Marschmusik, aber das sei lediglich die einfachste Möglichkeit, Instrumente und Gesang in die Arbeit zu integrieren. „Die Kinder blühen dabei richtig auf“, erklärt Mohammad mit durchdringendem Blick; so, als wollten seine Augen sagen: „Das ist das Allerwichtigste.“

Die bedürfnisorientierte Arbeit mit Heranwachsenden ist für ihn entscheidend. Gerade deshalb beschäftigt ihn eine Frage schon seit Monaten: Wie lässt sich Pfadfinderei modern und zeitgemäß umsetzen? „Wir identifizieren uns natürlich damit, in der Natur zu sein und den Kindern Wissen über den Wald zu vermitteln.“ Zelte bauen, Knotentechniken üben, Feuer machen. „Aber wir wollen auch Dinge anbieten, die die Lebensrealität von Kindern spiegeln“, sagt er und sein Blick wandert zur Tür. Die Brüder Yaman und Omar kommen herein, wenig später auch Anas Khalil und Hadi Abu Shaqra. Alle mit Hemd und Halstuch; mal rot, mal blau – abhängig von der Altersgruppe. 

Anas ist seit den Anfängen dabei und erklärt das Spektrum von „Scout Spirit“: „Wir sind im Freien und machen Musik, geben aber auch kleine Workshops – zum Beispiel in Fotografie. Wir bieten Nachhilfe an oder einen Computerkurs, machen Malaktionen und Bewegungsspiele.“ Als Pfadfinder könnten sie mit diesem breiten Angebot Kinder ab sechs Jahren ansprechen. Wären sie hingegen ein reiner Jugendclub, würde das kleinere Kinder ausschließen. Besonders der generationenübergreifende Gedanke sei ihnen aber mehr als wichtig. Und das von Beginn an. 

Pandemie hat die Jugend verändert

2021, Rückblick in den Sommer. Allmählich lockern sich die Pandemie-Beschränkungen und Dinge werden wieder möglich. Trotzdem haben viele Monate physischer und psychischer Distanz Menschen verändert, beobachtet Mohammad. Das Handy sei für viele Kinder zum wichtigsten Bezugspunkt geworden. „Dem wollten wir etwas entgegensetzen.“ Ideen für die Gestaltung der eigenen Freizeit zu entwickeln und Kreativität zu fördern, nennt er eine Hauptmotivation für sein Ehrenamt. Spontan meldet er damals eine lose Gruppe mit dem Namen „Scout Spirit“ für einen stadtweiten Bauwettbewerb an.

Aus Holz soll ein eigener Entwurf umgesetzt werden. Völlig unerwartet gewinnt das Team mit der Idee für ein Blockhausboot. „Wir hatten alle null Erfahrung im Handwerken, und das war großartig. Zusammen so etwas zu schaffen, hat uns beflügelt. Die Kinder waren voller Energie, und da haben wir uns gefragt: Warum sollten wir jetzt aufhören?“

In kurzer Zeit wächst die Nachfrage stark – und damit die Verantwortung. Die Gruppe schließt sich dem Landesverband der Deutschen Jugend des Ostens (DJO) an; Mohammad und sieben weitere junge Erwachsene bilden sich zu Jugendleiter*innen weiter. So wird aus einer fixen Idee eine professionalisierte Struktur, die dennoch erst am Anfang steht. Für die Zukunft ist viel geplant: Neben der Vereinsgründung wollen Mohammad und Anas die Bekanntheit von „Scout Spirit“ in Halle steigern und den Austausch mit anderen Organisationen suchen. Unterstützt werden sie dabei neben anderen den Ideenfonds von JUGENDSTIL*. Die Initiative fördert die (post-)migrantische Teilhabe junger Menschen im Osten.

Teilhabe. Das bedeutet für Mohammad vor allem, dass die Gruppe nicht zum reinen Selbstzweck existiert. Ziel sei es, Breitenwirkung in die Stadtgesellschaft zu entfalten. Um Werte wie Gemeinschaft, Respekt und Begegnung vorzuleben und Begegnungsräume zu schaffen. „Das ist nicht ganz so einfach wie es klingt“, räumt er ein. Manchmal fehle es am offenherzigen Klima und Interesse aneinander. Zwischen den hohen, teils leergezogenen Plattenbauten im eher sozialschwachen Stadtteil Neustadt lebten deutsche und migrantisch geprägte Kultur schnell aneinander vorbei. Im April und Juni hat „Scout Spirit“ deshalb die Straße mit Musik, Gesang und Tanz zum Zucker- und Opferfest belebt. Solche Angebote interkulturellen Dialogs möchte das Team weiter stärken. 

Selbstwirksamkeit erfahren

Für Lugain Mohamad Alali waren gerade das Höhepunkte der letzten Monate. Die Zwölfjährige ist mit ihrem kleinen Bruder Fadel in die Mitte des Stuhlkreises geschlüpft und strahlt übers ganze Gesicht, wenn sie von den Aktionen erzählt. „Wir lernen immer wieder andere Lieder, spielen Instrumente und zeigen den Menschen etwas von uns.“ Am Anfang sei das ein bisschen peinlich, aber dann einfach nur schön. Auch ihrem Bruder macht es am meisten Spaß, Neues zu lernen – und Abzeichen zu machen. „Das heißt, wir üben etwas ein paar Tage, zum Beispiel Fotografieren. Am Ende gibt es eine Prüfung und man bekommt eine Urkunde. Mich spornt das an“, sagt Fadel. Egal ob beim Zeltbauen oder Lieder singen. Auch Hadi kennt das Gefühl, neue Talente an sich zu entdecken. Für ihn geht es um Mitgestaltung, Selbstvertrauen und persönliche Entwicklung. „Ich interessiere mich für Rap und Poetry Slam. Hier habe ich schon zweimal eine Bühne bekommen, um Dinge vorzutragen. Und daran wachse ich.“ 

In einem seiner Texte beschreibt der 16-Jährige das Gefühl des Zerrissenseins zwischen verschiedenen Identitäten und Kulturen. Zwischen Deutschland, Palästina und Syrien. Ein Ort, an dem solche Gefühle und Sorgen artikuliert werden können – das ist „Scout Spirit“ für ihn. Aus eigenem Erleben weiß Mohammad, wie wichtig solch ein Schutzraum für Heranwachsende ist. In einem Bundesfreiwilligendienst engagiert er sich bei den Maltesern und arbeitet in Schulklassen mit hohem Migrationsanteil. Er hilft bei Übersetzungen, spricht über Integration, sucht den Kontakt zu Eltern. „Mein Eindruck aus dieser Arbeit ist, dass viele keinen Ort zum Reden haben. Sie wissen nicht wohin mit Problemen. Ihnen fehlt eine Gemeinschaft, die Sinn stiftet.“ Und die ein offenes Ohr hat. Zum Beispiel für eine Frage, die Hadi in seinem Gedicht stellt: „Wie viele Wurzeln kann ein Baum haben?“ „Scout Spirit“ diskutiert darüber. In der Natur – und im übertragenen Sinne.




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