Weil Tanz politisch ist

Cultural Awareness in der Clubkultur: Mit ihrem Musikevent „Somewhere Inbetween Jam“ verknüpfen Lan Mi Le und Leo Bunte Tanz-Workshops und politische Bildung. Aus der Liebe zur Musik erwächst so ein Netzwerk, das Bi_PoC-Künstler*innen sichtbar macht und fördert. 


Kalter Herbstregen wirft Blasen auf den Parkplatz vor dem Ost-Passagetheater in Leipzig. Ins Gewölbedach des historischen Gebäudes führen hölzerne Treppenstufen, die an diesem grauen Tag das Wasser vieler Schuhsohlen sammeln. Oben angekommen: Nachtclub-Stimmung. Eine Bar und Sofas mit lümmelnden Menschen, Bässe dröhnen. In der Mitte der Tanzfläche sitzt eine Gruppe eng zusammen und verfolgt aufmerksam, was Leiterin Mica aus Sao Pãolo über Toprock erklärt. So heißt die Beinarbeit, die im Hip-Hop im Stehen getanzt wird – zur Aufwärmung und Eröffnung komplexer Moves. Oder als Übergang im Battle. „Ihr müsst euch wohlfühlen“, sagt Mica. „Gebt eurem Körper die Erlaubnis, sich zu bewegen.“

Dieser so unscheinbare Satz macht greifbar, woran Lan Mi Le und Leo Bunte seit über einem Jahr arbeiten: ein Tanzfestival, das anders ist. Sich spüren und fallen lassen. Als Organisationsteam formen die beiden Free-Style-Tanz beim „Somewhere Inbetween Jam“ zu einer ganzheitlichen Idee, die weiß dominierter Feierkultur etwas entgegensetzt. Nicht nur durch Bewegung, sondern auch mit politischer Bildung. Drei Festivaltage animieren, sich tänzerisch so auszudrücken, wie es sich gut anfühlt. Frei von Scham. Parallel dazu wird politisch diskutiert und Wissen vermittelt: zu rassistischen Strukturen in Gesellschaft, Tanz und Clubs, zu den Ursprüngen verschiedener Stile und der damit verschränkten kulturellen Ausbeutung marginalisierter Gruppen. Kurzum: Cultural Awareness.

„Wir wollen sensibilisieren“, sagt Co-Gründer Leo, der selbst Tanz unterrichtet. „Einerseits ist es uns wichtig, das soziale, interaktive Moment von Hip-Hop zurück auf die Party zu holen und nicht wie im Techno immer isolierter und ich-bezogener in einer Art Trance aufzugehen. Andererseits wollen wir klar machen, dass wir uns kritisch mit Tanzgeschichte auseinandersetzen müssen, um Credits an die Leute zu geben, die uns diese Welt überhaupt eröffnet haben.“ Zwar seien antirassistische und antisexistische Grundsätze in der Hip-Hop-Kultur angelegt, doch die Realität sehe meist konträr aus. „Wir stellen die Frage, wie wir eine Feierkultur schaffen können, in der sich alle Menschen willkommen und wohl fühlen. Unser Event ist eine mögliche Antwort.“ 

Ein Freiraum, der nach innen schützt

Noch etwas unsicher stehen die Teilnehmer*innen im Tonnengewölbe jetzt im Kreis auf dem schwarzglänzenden Tanzboden. Portugiesischer Hip-Hop schmilzt aus den Boxen. Wer erobert zuerst die Mitte? Um das Eis zu brechen hüpft Mica vor. Auf ihrem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus, das ihren ganzen Körper zu durchfluten scheint, als hätte der Beat eine Lampe in ihr angeknipst. Sie schnipst mit den Fingern, wirft den Kopf von links nach rechts, lässt Schultern und Hüfte im Einklang pendeln. Sie fixiert eine Person, nähert sich und überträgt die Bewegung auf sie. Strahlend stehen beide voreinander, messen einander mit bewundernden Blicken und tauschen schließlich die Plätze. Es wird klar: Der Kreis ist keine Prüfung, sondern ein Freiraum, nach außen abgegrenzt, nach innen geschützt. 

Leo und Mi haben solche Räume im Tanz lange gesucht – und kreieren sie heute selbst. Während sie als Jugendliche in einer Tanzschule beginnt und von dort aus den Weg in die eigene All-Female-Crew Gems findet, startet er als Teenager einmal in der Woche in der Turnhalle. Hier lernt er nach und nach „ein paar Schritte“, später unterrichtet Leo selbst Kinder und Jugendliche. Trotz ihrer Leidenschaft geraten beide über die Jahre jedoch zunehmend in Konflikt mit den institutionellen Strukturen, in denen sie Tanzkultur in Europa erleben. 

„Es fängt in den Studios an, die meist der Türöffner in die Szene sind. Die Schulen werden von weißen Menschen geführt, die Stunden von weißen Menschen unterrichtet. Es wird weder über die Ursprünge von Hip-Hop gesprochen und darüber, dass diese Kultur der Black Community gehört, noch unterrichten Bi_PoC“, erklärt Mi. Ihr Zugang zum Tanz sei zweifelsfrei hochgradig privilegiert, erklärt sie. „Wir tanzen aus Freude und Zeitvertreib, nicht weil es unser Leben rettet.” Sich selbst diesbezüglich ehrlich zu hinterfragen, habe sie persönlich vor eine schwierige Frage gestellt: „Darf ich als nicht Schwarze Person Hip-Hop weiter hören – und tanzen?“ 

Wie wird aus Aneignung Austausch?

Würde sie aufhören, ändere das letztlich nichts, antwortet Mi heute. Besser sei es, die eigenen Privilegien zu nutzen: „Dinge wie Fördergelder zu beantragen und Events in meinem eigenen Umfeld zu organisieren. Zu schauen, was gibt es für Angebote in der Community und welche Räume fehlen? Hier kann ich Räume schaffen, Menschen aus marginalisierten Communities zusammenbringen, Credits und eine Bühne geben, sie fair bezahlen und so etwas verändern.“ Mit einer Förderung unter anderem durch den Ideenfonds von JUGENDSTIL* gelingt das „Somewhere Inbetween Jam“ nun schon zum zweiten Mal. 

Bei der ersten Auflage 2021 stand Kulturelle Aneignung im Fokus der politischen Workshops, 2022 ist es Anti-Asiatischer Rassismus. Die Corona-Pandemie habe dieses Thema zwingend auf die Agenda des ersten Festivaltages gesetzt. Die theoretischen Inhalte werden dabei auf verschiedene Zielgruppen zugeschnitten: Empowerment-Workshops richten sich beispielsweise ausschließlich an die (post-)migrantische asiatische Community. An Tag zwei steht dann die große Jam im Zentrum; zum Ausklang vermitteln an Tag drei Tanz-Workshops Grundschritte in Waacking, Hip-Hop und Toprock – frei für alle Levels, unabhängig von Vorerfahrungen. Hier dürfen sich alle ausprobieren und etwas von ihrem Innersten zeigen. 

Den Sinn und Zweck der Symbiose aus praktischer und inhaltlich theoretischer Auseinandersetzung während des Events bringt Leo auf eine griffige Formel: „Wir müssen als weiße Mehrheitsgesellschaft schauen, wie aus kultureller Aneignung – zum Beispiel im Tanz – kultureller Austausch wird.“ Wertschätzung und Begegnung auf Augenhöhe seien dabei Schlüssel. „Mit urbanem Tanz wird heute eine Menge Geld verdient, ohne dass Bi_PoC oder marginalisierte Gruppen ökonomisch beteiligt oder gefördert werden, ihre Namen sind nicht bekannt. Wir wollen das ändern.“ Die gesamte organisatorische Arbeit der beiden verlaufe daher ehrenamtlich, um die Beteiligten fair zu bezahlen. „Es wird krass unterschätzt, welche finanzielle Ausbeutung Bi_PoC in der Kulturbranche erfahren“, erklärt Leo. „Ich weiß, dass zum Beispiel Acht-Stunden-Jobs in einer Battle-Jury oft nur mit Fahrtkosten vergütet werden.“ 

Feierkultur muss Safe Spaces schaffen

Ihr Festival sehen sie als Zwischenschritt hin zu einer echten strukturellen Veränderung: In der besten aller Welten wären Clubs Orte, die tatsächlich antirassistisch und antisexistisch sind, Orte, an denen alle frei miteinander tanzen und sozial interagieren, „sodass Veranstaltungen Safe Spaces werden und keiner fünf Bier braucht, um überhaupt erst locker zu werden“, meint Leo.

Auch in den Schulen müsse sich grundlegend etwas ändern, ergänzt Mi: „Es braucht Bi_PoCs, die unterrichten. Das strukturelle Problem ist, dass auf den Ausbildungsweg geschaut wird. Urbaner Tanz wie Hip-Hop lässt sich allerdings kaum studieren, sondern wird auf Battles erlebt und durch Workshops ausgetauscht.“ Das zähle als Qualifikation in vielen Studios jedoch nicht. 

Mica hat jetzt den „wirklich allerletzten“ Track angemacht, der Abschied fällt schwer. Sie drückt die Finger auf die Lider und fächelt mit beiden Händen die Tränen weg, die ihr aus den Augen stürzen. „Es ist so schön zu sehen, wie wir hier frei zu diesen Liedern tanzen können“, sagt sie mit erstickter Stimme. „Aber in Brasilien ist diese Musik teilweise der einzige Ausdruck für uns. Demonstrationen werden niedergeschlagen. Alle vier Stunden wird ein Schwarzer Mensch getötet, Queers werden ermordet. Das dürfen wir nicht vergessen. Der Tanz ist unser Kampf. Dieser Style hält viele Menschen am Leben. Wir überleben mit Tanz.“ Sie legt die Hand aufs Herz, lacht, weint. Als sie einen Schritt auf die Gruppe zumacht, öffnen sich ihre Arme, die Distanz verringert sich und sie versinkt in dieser kleinen gemeinsamen Menge, die sie wiegt und hält wie ein Lied. 




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