Sonnenberg ist überall

Sie wollen dort anknüpfen, wo ein Team den Rasen verlässt: Der Fußballclub „Athletic Sonnenberg“ verbindet in Chemnitz Sport, Kultur und Sozialwesen zu einem großen Ganzen. Die Identität ihres Vereins beschreiben die Mitglieder wie den Stadtteil, den sie seit 2020 aktiv und leidenschaftlich gestalten: migrantisch, divers, solidarisch.


Christian Tung Anh Nopper sitzt im Park und schiebt die Sohlen seiner Trekkingsandalen übers Gras. Ein Gefühl von Zuhause. Wie oft er schon hier gesessen hat, kann er nicht zählen. Der Lessing-Platz ist der zentrale Treffpunkt im Chemnitzer Viertel Sonnenberg. Ankommen, wenn es dunkel wird, heimgehen, wenn es wieder dämmert. Vor allem in der Jugend war das Standard. Dass gerade hier der Begriff „sozialer Brennpunkt“ fällt, wirkt schräg. Ringsum werfen hübsche Gründerzeithäuser Schatten auf die Straßen, die Nachmittagssonne blinzelt friedlich durch hohe Platanen und im Parkbank-Eck klüngeln die „OG’s“ zusammen. Eine gealterte Männerrunde, die Christian und seine Kumpels „Original Gangster“ nennen. Alles wie immer. 

Neben Alltagsszenen wie diesen sind auch die Stigmata von Dauer, die das Viertel trägt. „Arm, Hartz 4, viele Menschen mit Migrationshintergrund, Drogen, Kriminalität – das sind die Vorurteile, die immer kommen“, meint Christian, der zwischen all diesen Schubladen aufgewachsen ist. „Ich weiß, dass ich mich früher oft geschämt habe“, sagt er. In der Grundschulklasse ist er damals der Einzige, der den Sprung aufs Gymnasium schafft. In einen „besseren“ Stadtteil. Das bietet Angriffsfläche – in beide Richtungen. „Ich hab lange gesagt, dass ich nur hier raus will. Und manchmal habe ich gedacht, weil ich vom Sonnenberg komme, habe ich nichts Interessantes zu erzählen oder muss meine Geschichte verstecken. Das ist jetzt zum Glück ganz anders.“

Heute stellt Christian das Viertel im Fokus seiner Kamera scharf. Er fängt die Geschichten und Gesichter der Menschen in den Straßen ein. Im Zentrum seines Kurzfilms sollen die Lebenswege verschiedener Einwander*innen und deren Kinder stehen. Gefördert werden Christian und sein Kurzfilm durch den Ideenfonds von JUGENDSTIL*. „Ich möchte (post-)migrantische Perspektiven sichtbar machen und all denen eine Stimme geben, die vielleicht ähnlich denken wie ich früher.“ Die das Gefühl haben, ihre Existenz sei in dieser Gesellschaft nicht von Belang. „Ich will zeigen, was sie für Träume, Wünsche  und Ideen haben.“ Und was sie tatsächlich längst auf die Beine stellen. Denn: Inzwischen gingen viele gute Impulse vom Viertel aus. Einer, der spürbar Wirkung entfaltet, kommt von Christian selbst. Beziehungsweise seinem Verein: Athletic Sonnenberg.

Raus aus der Schublade

Der neue Fußballclub ist ein Herzensprojekt von befreundeten Menschen, die schon als Kinder zusammen auf dem Platz um die Ecke gebolzt haben. Als sie 2020 die Idee zur Vereinsgründung haben, spielen viele in unterschiedlichen kleinen Mannschaften in Chemnitz oder umliegenden Dörfern. „Uns alle hat Fußballkultur immer interessiert, vor allem die Werte und Botschaften, die ein Club transportieren will“, erinnert sich Cornelius Huster an die Anfänge. „Irgendwann kam dann der Gedanke einfach loszulegen, sich unabhängig aufzustellen und alles von der Pike auf selbst zu machen.“ Cornelius ist heute Teil des Vorstands und sonst als Sozialarbeiter tätig. Ein Job, der auch die private Leidenschaft durchdringt.

Bei Athletic Sonnenberg soll eben nicht allein körperliche Leistung im Vordergrund stehen. Es gehe darum, über den Zugang zum Sport soziales und kulturelles Engagement zu einem großen Ganzen zu verbinden: „Wir wollen das Viertel aktiv mitgestalten“, erklärt Cornelius das Vereinsmotto „More than a football club“. Schon jetzt haben kleinere Aktionen stattgefunden: ein Sportfest mit zwei Kitas, ein Stand auf der Stadtteilfest „Hang zur Kultur“. „Uns ist es wichtig zu zeigen, Athletic Sonnenberg ist dein Verein“, meint Cornelius. „Du kannst dich hier einbringen. Komm einfach vorbei.“

Eine gewisse Haltung ist dabei für die Mitglieder unverrückbar: Im Selbstverständnis des Clubs heißt es, „ein Antidiskriminierungsverständnis wird vorausgesetzt beziehungsweise die Bereitschaft, dieses zu entwickeln“. Im Verein spielen viele Menschen mit (post-)migrantischer Biografie. Dennoch ist es dem Team wichtig, nicht als migrantisches oder politisches Projekt verstanden zu werden, sagt Kapitän Filip Fotinho. „Wir denken nicht in diesen Schubladen. Wir bekennen uns zu Werten wie Antirassismus und Antidiskriminierung, aber das sind für uns keine politischen Kategorien, sondern Grundsätze des Menschseins.“ 

Neben der Kulturfrage spricht er gern über Zukunftspläne: Eine Klasse aufsteigen, also in die Kreis-Oberliga – das stehe auf der Agenda. „Und die Jugendarbeit. Wir wollen uns darauf konzentrieren, viele neue Mitglieder zu gewinnen.“ Gerade das könnte schnell gehen, wenn Athletic Sonnenberg weiter im bisherigen Tempo wächst. Als 2020 der Startschuss fällt, findet die erste Mannschaft mit 20 Spielern quasi aus dem Stand zusammen. Nur zwei Jahre später gibt es bereits ein zweites Männerteam und eine Jugendgruppe. 

Die Arbeit mit Kindern und jungen Erwachsenen ist auch für Christian entscheidend. Der freiberufliche Mediengestalter kommuniziert die Marke Athletic nach außen, ist für Social Media, Fotos, Videos und die Designs der Trikots und Streetwear mitverantwortlich. Früher hätte er sich so einen Fußballclub gewünscht, betont er. „Mit einem Trainer, der nicht nur rumschreit, alt, dick und konservativ ist.“ Ein Verein als Zufluchtsort, an dem man sich verstanden fühlt und angenommen wird, wie man ist. „Wo man nicht nur in weiße Gesichter glotzt, wenn man mit einer anderen Hautfarbe kommt. Wo Leute aus meiner sozialen Klasse mitmachen, die eventuell dieselben Scheißerfahrungen gemacht haben wie ich“, ergänzt Cornelius. Diese Nahbarkeit sei identitätsstiftend für den Verein.

Kicken im Kiez

Das wird auch klar, wenn die Jungs im Viertel unterwegs sind. Im Schlenderschritt surfen sie die Lessingstraße entlang. Mustafa – Musti – Mohamadi hat einen Fußball unter den Arm geklemmt. „Den hab ich immer im Kofferraum liegen“, meint er zu Filip. „Immer bereit anzugreifen, jeder kann mich sofort herausfordern, weißt du.“ Die anderen lachen. Vor der „Lounge 130“ auf der anderen Straßenseite winkt jemand. „Das ist der Chef der Shisha-Bar“, meint Musti und grüßt zurück. „Einer unserer Sponsoren.“ So, wie auch das Restaurant Pho Viet, das groß auf die blau-schwarzen Trikots gedruckt ist. Von und für den Kiez – das ist die DNA des Vereins. Aber natürlich seien sie offen für ganz Chemnitz. „Alle können mitmachen, auch die, die nicht vom Sonnenberg kommen oder hier wohnen“, sagt Co-Gründer Musti, der seine Liebe zum Fußball früh entdeckte. „Jeden Tag kicken auf dem Platz vor unserem Plattenbau“, so beschreibt er seine Kindheit.

Später sei er dann immer mal im Stadion des Chemnitzer FC gewesen. „Denn eigentlich mag ich die Vorstellung, den großen Club der Stadt zu supporten“, erzählt er. „Selbst habe ich dort auch keine negativen Erfahrungen gemacht.“ Anders ging es befreundeten Jungs, die Pöbeleien und rassistische Sprüche auf den Rängen erlebten. Über die Stadtgrenzen hinaus ist die rechtsextreme Hooliganszene des CFC und ihr Einfluss bekannt. 2019 veranstalteten sie unter anderem eine Trauerbekundung für einen verstorbenen Neonazi im Stadion; der neu eingesetzte Fanbeauftragte erklärte daraufhin den Ruf des Clubs als „ruiniert“. 

In diesem Umfeld einen Gegenentwurf antirassistischer Fußballkultur zu etablieren, habe die Engagierten von Athletic Sonnenberg jedoch nicht bewusst motiviert. „Wenn du als Kind mit dem CFC aufwächst, hinterfragst du das nicht unbedingt“, meint Cornelius. „Aber klar, irgendwann habe ich mich wie viele andere dort nicht mehr wohl gefühlt. Dann sehnt man sich nach einem Club, der andere Maßstäbe setzt.“ Um Dinge in den Strukturen zu verändern, sind Awareness-Coachings bei Athletic ein fester Bestandteil. Unterstützt werden sie dabei durch Leipziger Initiative für mehr gesellschaftliche Verantwortung im Breitensport-Fußball (IVF).

Wenn sie auf all das bisher Erreichte aus der Vogelperspektive schauen, bliebe nur ein Schluss: „Es läuft. Wir sind stolz, was wir in kurzer Zeit auf die Beine gestellt haben“, meinen Musti und Cornelius. Nur eine Sache gibt es, die noch nicht passt: Es fehlt ein eigener Trainingsplatz. Der muss Athletic Sonnenberg von der Stadt zugesprochen werden, „und die Mühlen mahlen sehr langsam.“ In der Praxis bedeutet das bislang, wöchentlich gut zehn Kilometer an den Stadtrand fahren, um auf dem Rasen von SV Eiche Reichenbrand aufzulaufen. Ein Platz im Viertel Sonnenberg – davon träumen die Fußballer. Inmitten der Straßen, die sie „Zuhause“ nennen und wo sie längst gemeinsam Geschichte schreiben. 




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