Wir wollen reden
Drei Monate verbrachte Safi Zubairullah in der Erstaufnahmeeinrichtung auf dem Suhler Friedberg. Ein schwerer Start in Deutschland, der ihn lange beschäftigt. Anderen Geflüchteten will er das Ankommen leichter machen. Deshalb initiiert er zusammen mit seiner Mitbewohnerin ein Aufklärungsprojekt über einen ambivalenten Ort mitten im Thüringer Wald.
Plötzlich ist alles wieder da. Hier zwischen Wohnblocks, Bushaltestelle und dem schmalen Fußweg, der senkrecht bergab in die Stadt führt. Vor Safi Zubairullahs innerem Auge ziehen Ausschnitte der Vergangenheit vorbei. Regungslos steht er an der Straße, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Sein Blick heftet sich an zwei Männer, die volle Einkaufstüten die Steile hinaufschleppen. Er sagt nichts, doch sein Blick verrät viel.
Es ist, als hinge das Gewicht der Beutel wieder an seinen Händen. Etliche Male ist er diesen Weg gegangen. Bis zum nächsten Supermarkt; einkaufen für damals drei Euro am Tag. Fünf Kilometer ins Zentrum von Suhl, fünf Kilometer zurück auf den Friedberg. „Und dann wieder rein ins freiwillige Gefängnis.“ So nennt Safi die Erstaufnahmeeinrichtung in Thüringen, in der er 2015 für drei Monate lebt. Wobei: „Gewartet, geschlafen, gelaufen“ – mit diesen Worten umschreibt er seinen Alltag in dieser Zeit. „Ist das leben?“
Heute gleiche das Gelände weit mehr einem Gefängnis als noch vor sieben Jahren, meint er mit Blick auf den Haupteingang. Hinter einem hohen Zaun verschwinden die Wohnblöcke, der Zugang ist nur über Drehschleusen möglich. „Das gab es zu meiner Zeit nicht.“ Löcher in der Sichtschutzplane geben den Blick auf einen Spielplatz frei. Menschen sitzen in der Sonne und reden, im Hof parkt ein Polizeiwagen. Rund um die Uhr sind seit August 2021 zwei Beamt*innen auf dem Gelände im Einsatz. 24-Stunden-Dauerdienst nennt sich dieses Konzept.
Der Grund: Im vergangenen Jahr hatten sich Einbrüche in der benachbarten Kleingartenanlage gehäuft und eine weitere Protestwelle gegen die Unterkunft ausgelöst. Neu ist das nicht. Safi erinnert sich an viele Demonstrationen, die ihn ratlos und manchmal verängstigt zurückließen. Er konnte Symboliken nicht zuordnen, verstand weder die Parolen von AfD-Sympathisant*innen noch die Solidaritätsbekundungen der Linken.
„Das ist das größte Problem an so einem Ort“, sagt er. „Es gibt keine Informationen für Geflüchtete. Keine Aufklärung.“ Dabei würde allein das schon helfen. Natürlich wünsche er sich auch eine Willkommenskultur und Gastfreundschaft wie er sie aus seiner Heimat Afghanistan kenne. Einen menschenwürdigen Umgang, frei von Rassismus. Doch ebenso wesentlich, meint er, sei das Verstehen. „An welchem Ort bin ich hier? Warum sehen diese Gebäude wie Kasernen aus? Warum sind draußen manchmal Schüsse zu hören? Keiner erklärt einem das, wenn man hier ankommt.“ Emilia Henkel blickt ihn an und nickt schweigend.
Seit vier Jahren wohnt die Studentin mit Safi zusammen in Thüringen. Sie kennt viele Details seiner Fluchtgeschichte, weiß von seinen Erfahrungen in Suhl und dem Schießsportzentrum in der Nachbarschaft, das geflüchtete Menschen und ihre Erlebnisse mit Krieg, Folter und Tod triggert. Daher die Schüsse. Aus langen Küchengesprächen in ihrer Wohngemeinschaft erwächst schließlich mehr und mehr Engagement. Hilfe in der Nachbarschaft für Geflüchtete, ein Vortrag zu Thüringens Asylgeschichte und jetzt: das Projekt „Wir wollen reden“ in der Erstaufnahmeeinrichtung. Gefördert werden sie dabei durch den Ideenfonds von JUGENDSTIL*.
Informationsnetzwerk für Geflüchtete
Safi und Emilia wollen da anknüpfen, wo Informationen fehlen und Geflüchtete mit Hinweisen unterstützen, die sie in ihrer Situation dringend brauchen. Kontaktdaten zu Anwält*innen, zu Hilfsorganisationen und psychosozialen Beratungsstellen in der Region, zu kooperativen Ärzt*innen, und zur Polizei. Parallel dazu arbeiten sie an einer kleinen Publikation, die über die Historie des Friedbergs aufklären soll.
Mithilfe zweier Biografien wollen sie zeigen, dass sich konträre Geschichten an diesem Ort überlagern, denn: Nicht nur Safis Lebensweg kreuzte Suhl zeitweise. Auch der enge Familienfreund und Ziehonkel Said Safi kennt das Areal inmitten des Thüringer Waldes. Beide Männer waren 17 Jahre alt, als sie hier strandeten. Sie bewegten sich für Momente sogar in den gleichen Gebäuden. Der eine als Geflüchteter, der andere als Offiziersstudent. Zwischen ihren Erfahrungen liegen knapp 30 Jahre.
Said kam 1986 keineswegs freiwillig nach Suhl. Im Zuge des Warschauer Pakts wurden junge Männer aus Afghanistan aus Bündnistreue zur Sowjetunion zur militärischen Ausbildung in die DDR geschickt. Drei Jahre verbrachte er an der Offiziershochschule der Grenztruppen – damals „eine der modernsten Ausbildungsstätten im Land mit rund 3000 Studierenden“, sagt er. Hier lernt Said Skilaufen – im Schneehemd und mit Gewehr auf dem Rücken. Hier absolviert er Übungen auf dem Exerzierplatz und Schießtrainings an einem 20 Kilometer langen Mauernachbau. Doch zum Einsatz an der Grenze kommt es nie.
Hätte er dazu die Möglichkeit gehabt, wäre er in den Westen geflohen, meint er heute. „Auf die Schwachstellen in der Mauer wurden wir trainiert. Die hätte ich genutzt.“ Doch kurz vor der Wiedervereinigung schickt man ihn zurück nach Afghanistan. Vom Mauerfall erfährt er wenig später in seiner Heimat. „Es war keine gute Zeit. Ich wollte nie zum Militär, sondern Medizin studieren, aber die Geschichte lässt sich nicht ändern.“ Immerhin habe er Privilegien genossen. „Wir waren wie kleine Diplomaten und wurden sehr gut behandelt. Es sind ganz andere Erfahrungen, die du als geflüchteter Mensch machst.“
Gesellschaftliche Anerkennung versus Ablehnung: Zwischen diesen Gegensätzen entspannen sich die Lebenswege beider Männer. Sie manifestieren sich in simplen Beispielen, wie etwa der Versorgung und Unterbringung. Während sich Said an eine eigene Kantine für die ausländischen Studierenden erinnert, an zwei warme Mahlzeiten am Tag und Ausflüge in die Gaststätte „Haus der Grenztruppen“ schlägt Safi bei diesem Thema den Blick nieder.
„Sehr wenig und sehr schlechtes Essen gab es. Menschen, die auf der Flucht Hunger leiden mussten, warteten auf das Mittagessen manchmal eineinhalb Stunden. Am Abend gab es zwei Scheiben Brot und ein Stück Käse.“ Rund 700 Menschen wohnten gemeinsam mit ihm auf dem Gelände, heute sind es knapp 900. „Es war immer schmutzig, vor allem die Toiletten und Duschen. Noch dazu gab es kein bisschen Privatsphäre, da man die Zimmer nicht abschließen konnte. Die Türen waren kaputt, es gab keine Türklinken.“
Diese Lebensumstände geben einem das Gefühl, nichts wert zu sein, sagt er. Das betreffe auch die medizinische Hilfe. 2020 machte ein Vorfall aus der Suhler Erstaufnahme Schlagzeilen. Eine Frau verlor im siebten Monat ihr Kind, obwohl sie wegen Schwangerschaftsbeschwerden mehrfach nach gynäkologischen Untersuchungen verlangt haben soll. Die Verantwortlichen hätten diese Bitten ignoriert, dokumentiert der Flüchtlingsrat Thüringen das Ereignis. Die Frau erstattete Anzeige gegen den zuständigen medizinischen Dienst.
Auch das Sicherheitspersonal habe immer wieder hart, teils aggressiv agiert. „Sie haben laut und unhöflich gesprochen. Das war normal“, meint Safi. Filmaufnahmen von Bewohner*innen dokumentieren auch das gewaltvolle Auftreten der Security. Unter anderem die Initiative Lagerwatch fordert deshalb die „Aufkündigung aller Verträge mit dem derzeit im Lager Suhl tätigen Sicherheitsdienst“. Passiert ist bislang jedoch nichts.
Den Osten gestalten, statt verlassen
„Ich habe viele traurige Sachen erlebt“, zieht Safi einen Strich unter dieses Kapitel. „Aber trotzdem versuche ich Thüringen als zweite Heimat zu sehen.“ Zwar habe er schon häufig überlegt, nach Westdeutschland zu gehen, „weil sie dort mehr Erfahrungen mit geflüchteten, mit ausländischen Menschen haben“. Aber dann denke er wieder, „ich bleibe hier, weil nicht alle Ostdeutschland verlassen können. Dann ändert sich nichts für die, die Hilfe brauchen.“ Er will einen Teil dazu beitragen, andere zu unterstützen. Und gern hätte er dafür mehr Zeit.
Er träumt von einem Auto, um öfters in Suhl vor Ort zu sein. Denn allein die Fahrt mit dem Zug dauert über zwei Stunden und bedeutet einen erheblichen Aufwand. Das sei generell eine große Herausforderung in der Region, erklärt Emilia: „Die Distanzen sind unheimlich weit.“ Zwar gebe es rege Geflüchteteninitiativen in großen Städten wie Jena und Erfurt, aber Orte wie Suhl seien schlecht zu erreichen. Das mache zivilgesellschaftliches Engagement schwer. „Natürlich gibt es in Suhl Aktivist*innen, aber es sind nicht viele. Also ist die Gegenseite immer viel viel lauter.“
Die junge Frau glaubt, so manchem politisch Verantwortlichen passe das alles auch ganz gut: „Oben auf dem Berg, weit weg vom Stadtzentrum. Dann schauen weniger Menschen hin.“ Eins ist ihr deshalb wichtig: Die Würdigung unsichtbaren Engagements. Damit meint sie Dinge, die ganz alltäglich geschehen, für die wenig Lobbyarbeit betrieben wird und Projektanträge fehlen. „Safi hilft anderen Geflüchteten bei der Jobsuche und verwendet dafür viel Zeit. Genauso wie Said. Er arbeitet häufig ehrenamtlich und kostenlos als Übersetzer.“
Auch in ihrem Projekt bei JUGENDSTIL* unterstützt sie Said. Seit 2016 ist er zurück in Deutschland, hat in verschiedensten Städten gelebt und schließlich in Jena Wurzeln geschlagen. Helfende Menschen nennt er unabdingbar für diese Gesellschaft. „Keiner darf vergessen, dass Geflüchtete oft schwer traumatisiert hier ankommen.“ Viele hätten keine Chance auf eine zeitnahe psychologische Betreuung, dazu erlebten sie immer wieder Alltagsrassismus – bei der Wohnungs- oder Jobsuche, im Kontakt mit Behörden. Das permanente Gefühl der Ablehnung könne drastische Folgen haben. „Ich kenne viele junge Leute, die Alkohol- oder Drogenabhängig sind. Einfach weil sie keine Perspektive in Deutschland sehen. Weil sie vielfach Feindseligkeit erfahren.“ Daher brauche es Menschen, die mit offenem Herz auf andere zugehen und unterstützen.
Arm in Arm stehen Safi und Said auf der Straße. Ihr Blick geht weit über den Thüringer Wald, der in der Herbstsonne strahlt. Eine friedliche Szene, schön wie ein Gemälde. Aber auch so unvollkommen wie die Realität. Denn im Rücken der beiden bilden sich die Brüche ihrer Biografien ab. An der Straßenecke verfällt allmählich das Restaurant „Haus der Grenztruppen“, wo Said mit seinen Kommilitonen einst gesellige Abende verbrachte. Safi begegnete vor dem Lokal hingegen drei Jahrzehnte später Menschen aus den angrenzenden Wohnhäusern.
Als er seine Einkäufe schwer atmend an ihnen vorbeiträgt, rufen sie ihm entgegen: „Scheiß Ausländer. Geh dahin, wo du hergekommen bist.“ Safi versteht nichts und reagiert aus dem Bauch heraus. „Ich habe gelächelt und einen Daumen nach oben gezeigt, weil ich dachte, es sollte nett sein.“ Damit genau das anderen nicht mehr passiert, will er aufklären. Über einen Ort, den er noch nicht hinter sich gelassen hat.
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