Wanderausstellung „Trotz allem! – Postmigrantische Jugend bewegt den Osten“ (DE)
Trotz (un-)bewussten Übersehen-Werdens! Trotz Überhört-Werdens! Trotz Vergessen-Werdens! Viele junge migrantische Menschen und BI_PoC aus und in Ostdeutschland sind laut! Sie sind stark! Sie mischen lautstark den Osten auf!
Die Ausstellung Trotz allem! Postmigrantische Jugend bewegt den Osten zeigt junges, (post-)migrantisches und BI_PoC-Engagement in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt sowie Thüringen. Junge Vorbilder aus unterschiedlichen Communitys schaffen eigenständig Räume für Zusammenschlüsse, Empowerment und gesellschaftliche Veränderungen. Sie brechen mit Vorurteilen, alten Mustern und rassistischen Bildern. Ungeschönt erzählen sie von den Herausforderungen, die sich ihnen im Alltag, auf der Bühne, in Vereinen und in der Kommunalpolitik stellen. Ihre Geschichten machen Mut und Hoffnung. Sie zeigen, wie selbstbewusst und ausdauernd junge Migrant*innen und BI_PoC in Ostdeutschland sind.
Diese Ausstellung ist im Rahmen des Projekts „Kompetenznetzwerk für das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft“ vom Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland – DaMOst e.V. mit Unterstützung der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt und der Heidehof Stiftung entstanden. Ziel ist es, junges (post-)migrantisches und BI_PoC-Engagement in Ostdeutschland anzuerkennen, sichtbarer zu machen und zu fördern.
Wir weisen darauf hin, dass innerhalb dieser Ausstellung Erfahrungen und Diskussionen zu Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Gewalt und Krieg wiedergegeben werden.
Jugend Spricht
Anosh musste 2015 aus seiner Heimat fliehen – über mehrere Wochen. Zu Fuß, mit dem Auto, einem Boot. Die Ankunft in Deutschland bedeutete für ihn allerdings, mitnichten angekommen zu sein. „In Afghanistan hatte ich eine eigene Firma“, blickt der studierte Kaufmann für Büromanagement zurück. Seine Dokumente allerdings erkannten die deutschen Universitäten nicht an.
Erst der Tipp eines Bekannten wurde für ihn zu einem goldenen Schlüsselchen: Anosh erfuhr von einem Programm, das zwischen Studierenden aus dem Ausland und deutschen Universitäten vermittelte. Über diesen Weg wurde tatsächlich nach knapp drei Jahren sein Bachelor-Abschluss anerkannt. Kurz darauf zog er für sein Masterstudium nach Rostock. Damals ahnt Anosh nicht, dass seine Entscheidung für viele Menschen ebenfalls zu einem goldenen Schlüsselchen werden soll.
2019 gründet er gemeinsam mit anderen internationalen Studierenden die Initiative „Jugend spricht“. Aus einer Info-Veranstaltung zu Ausbildung und Studium werden monatliche Zusammenkünfte, bei denen Menschen aus Afghanistan, Palästina, dem Irak, Syrien, Iran, Somalia, dem Jemen zusammenfinden. Ein spontaner Impuls, der sich heute in der Stadtgesellschaft und darüber hinaus verfestigt hat.
“Kunst inmitten des Krieges” ist eine Ausstellung, die er gemeinsam mit seiner Schwester und „Jugend spricht“ realisiert hat. Hafiza Qasimi ist Aktivistin, Künstlerin, Galeristin. Bis vor Kurzem lebte sie in Kabul. Seit dem Ausbruch der Terrorherrschaft der Taliban im August 2021 fürchtet die 23-Jährige um ihr Leben.
Woher sie die Kraft nimmt, die Lebensrealität in Afghanistan künstlerisch zu dokumentieren, erklärt Anosh so: „Jeder Mensch träumt von Freiheit. Diese Frauen setzen sich seit Jahren mit ihrem Leben dafür ein.“ Es sei wie ein innerer Drang, Widerstand zu leisten. Die Botschaft, die von dem Projekt ausgeht: „Wir wollen der Welt zeigen, dass die afghanische Gesellschaft Solidarität braucht. Wir setzen ein Zeichen, damit diese Menschen nicht vergessen werden.“
„Wir wollen Tipps geben, wie Zugezogene ihren eigenen Weg gehen können“, erklärt Anosh. Das Credo der Initiative: „Wir haben etwas zu sagen. Wir wollen unsere Geschichte erzählen!“
Somewhere In Between Jam
„Gebt eurem Körper die Erlaubnis, sich zu bewegen“
Dieser so unscheinbare Satz macht greifbar, woran Lan Mi Lê und Leo Bunte seit über einem Jahr arbeiten: ein Tanzfestival, das anders ist. Sich spüren und fallen lassen. Als Organisationsteam bringen die beiden Tanz beim „Somewhere Inbetween Jam“ Festival zu einer ganzheitlichen Idee, die weiß dominierter Feierkultur etwas entgegensetzt. Nicht nur durch Bewegung, sondern auch mit politischer Bildung. Drei Festivaltage animieren, sich tänzerisch so auszudrücken, wie es sich gut anfühlt. Frei von Scham. Parallel dazu wird politisch diskutiert und Wissen vermittelt: zu rassistischen Strukturen in Gesellschaft, zu den Ursprüngen verschiedener Tanzstile und der damit verschränkten kulturellen Ausbeutung marginalisierter Gruppen. Kurzum: Cultural Awareness.
Leo und Mi haben solche Räume im Tanz lange gesucht – und kreieren sie heute selbst. Während sie als Jugendliche in einer Tanzschule beginnt und von dort aus den Weg in die eigene All-Female-Crew Gems findet, startet Leo als Teenager einmal in der Woche in der Turnhalle. Hier lernt Leo nach und nach „ein paar Schritte“, später unterrichtet Leo selbst Kinder und Jugendliche. Trotz ihrer Leidenschaft geraten beide über die Jahre jedoch zunehmend in Konflikt mit den institutionellen Strukturen, in denen sie Tanzkultur in Europa erleben. „Es fängt in den Studios an, die meistens Türöffner in die Szene sind. Die Schulen werden von weißen Menschen geführt, die Stunden von weißen Menschen unterrichtet. Es wird weder über die Ursprünge von Hip-Hop gesprochen und darüber, dass diese Kultur der Black und Latin Community gehört, noch unterrichten Bi_PoC“, erklärt Mi. Ihr Zugang zum Tanz sei zweifelsfrei hochgradig privilegiert, erklärt sie. „Wir tanzen aus Freude und Zeitvertreib, nicht weil es unser Leben rettet.”
Den Sinn und Zweck der Symbiose aus praktischer und inhaltlich theoretischer Auseinandersetzung während des Events bringt Leo auf eine griffige Formel: „Wir müssen als weiße Mehrheitsgesellschaft schauen, wie aus kultureller Aneignung – zum Beispiel im Tanz – kultureller Austausch wird.“ Wertschätzung und Begegnung auf Augenhöhe seien dabei Schlüssel.
„Mit urbanem Tanz wird heute eine Menge Geld verdient, ohne dass Bi_PoC oder marginalisierte Gruppen ökonomisch beteiligt oder gefördert werden, ihre Namen sind nicht bekannt. Wir wollen das ändern.“
Athletic Sonnenberg
„Ich hab lange gesagt, dass ich nur hier raus will. Und manchmal habe ich gedacht, weil ich vom Sonnenberg komme, habe ich nichts Interessantes zu erzählen oder muss meine Geschichte verstecken. Das ist jetzt zum Glück ganz anders.“
Heute stellt Christian das Viertel im Fokus seiner Kamera scharf. Er fängt die Geschichten und Gesichter der Menschen in den Straßen ein. Im Zentrum seines Kurzfilms sollen die Lebenswege verschiedener Einwander*innen und deren Kinder stehen.
„Ich möchte (post-)migrantische Perspektiven sichtbar machen und all denen eine Stimme geben, die vielleicht ähnlich denken wie ich früher.“ Die das Gefühl haben, ihre Existenz sei in dieser Gesellschaft nicht von Belang. „Ich will zeigen, was sie für Träume, Wünsche und Ideen haben.“ Und was sie tatsächlich längst auf die Beine stellen. Denn: Inzwischen gingen viele gute Impulse vom Viertel aus. Einer, der spürbar Wirkung entfaltet, kommt von Christian selbst. Beziehungsweise seinem Verein: Athletic Sonnenberg.
Der neue Fußballclub ist ein Herzensprojekt von befreundeten Menschen, die schon als Kinder zusammen auf dem Platz um die Ecke gebolzt haben. „Irgendwann kam dann der Gedanke einfach loszulegen, sich unabhängig aufzustellen und alles von der Pike auf selbst zu machen.“ Cornelius ist heute Teil des Vorstands und sonst als Sozialarbeiter tätig. Ein Job, der auch die private Leidenschaft durchdringt.
Bei Athletic Sonnenberg soll eben nicht allein körperliche Leistung im Vordergrund stehen. Es gehe darum, über den Zugang zum Sport soziales und kulturelles Engagement zu einem großen Ganzen zu verbinden: „Wir wollen das Viertel aktiv mitgestalten“, erklärt Cornelius das Vereinsmotto „More than a football club“. Wenn sie auf all das bisher Erreichte aus der Vogelperspektive schauen, bliebe nur ein Schluss: „Es läuft. Wir sind stolz, was wir in kurzer Zeit auf die Beine gestellt haben“, meinen Musti und Cornelius. Nur eine Sache gibt es, die noch nicht passt: Es fehlt ein eigener Trainingsplatz. Der muss Athletic Sonnenberg von der Stadt zugesprochen werden, „und die Mühlen mahlen sehr langsam.“ Ein Platz im Viertel Sonnenberg – davon träumen die Fußballer. Inmitten der Straßen, die sie „Zuhause“ nennen und wo sie längst gemeinsam Geschichte schreiben.
„Wir denken nicht in diesen Schubladen. Wir bekennen uns zu Werten wie Antirassismus und Antidiskriminierung, aber das sind für uns keine politischen Kategorien, sondern Grundsätze des Menschseins.“
Geflüchteten Netzwerk Cottbus
Anfeindungen auf der Straße, Rassismus in der Schule gehörten für Enas und ihre zwei Schwestern zum Erwachsenwerden. „Ich hatte Lehrkräfte, die mir den Glauben an mich nehmen wollten. Einer meinte, dass ich mich gar nicht anstrengen bräuchte, da ich das Abitur sowieso nicht schaffen würde. Meiner Schwester wurde gesagt, dass sie das Kopftuch abnehmen soll, was eine krasse Grenzüberschreitung ist“, erzählt die 24-Jährige. Erlebnisse wie diese entfachen in ihr einen inneren Widerstand und sie sucht einen Ort, um Ohnmacht in Stärke zu wandeln.
Fündig wird sie 2019 beim Geflüchteten Netzwerk Cottbus e.V. Engagierte aus Syrien gründeten die Initiative 2017 unter Vorsitz von Nabil Abo Nasser. Zu Beginn unterstützt der Verein bei Behördengängen und Ämterschreiben, inzwischen ist er eine zentrale Anlaufstelle für migrantische Selbstorganisation und Bildungsarbeit. Nachhilfestunden, Sprachunterricht und Workshops gegen antimuslimischen Rassismus haben sich inzwischen fest etabliert. Alle Projekte verfolgen ein Ziel: Mut machen. „Meine größte Motivation ist es, geflüchtete Menschen zu empowern“, betont Enas. Und ihre Augen lachen.
Kinder und Jugendliche stehen dabei besonders im Fokus. Zum Beispiel im Arabisch-Sprachunterricht. Das Projekt ermöglicht es, „Kindern aus Kriegsgebieten, die nur zeitweise ihre Heimat kennengelernt haben, die Kenntnisse in ihrer Muttersprache zu verbessern“, erklärt Enas. „Das ist auch wichtig, um den Austausch zwischen geflüchteten Kindern und ihren Eltern aufrechtzuerhalten.“ Außerdem festige sich über einen lebendigen Bezug zur Muttersprache die Identität junger Menschen, was wiederum das Selbstwertgefühl steigere.
In Coachings und Erzählcafes ermutigen Menschen wie Enas, Rama und Moussa, erlebte Diskriminierung zu teilen, die Stimme zu erheben und Verbündete zu suchen. Nur so könne gesamtgesellschaftlich etwas in Bewegung geraten, erklärt Enas: „Empowerment bedeutet, dass Menschen erkennen, dass sie die Kraft haben, ihr Umfeld zu gestalten. Dass ihre Stimme wichtig ist und sie selbst Visionen zur Zukunft von Cottbus entwickeln können.“
„Empowerment bedeutet, dass Menschen erkennen, dass sie die Kraft haben, ihr Umfeld zu gestalten. Dass ihre Stimme wichtig ist und sie selbst Visionen zur Zukunft von Cottbus entwickeln können.“
DecolonizeZoo
Kalsoumy und Caro sind nicht gern gesehen am Zoo in Leipzig, auch, wenn es nur für ein Foto-Shooting im gegenüberliegenden Parkhaus ist. Zwei Frauen mit Pappschildern, das mag auf den ersten Blick harmlos wirken. Doch ihre Forderungen erschüttern das Konzept Zoologischer Garten in seinen Grundfesten. Beide gehören zum Bündnis „DecolonizeZoo Leipzig“.
„Dass der Leipziger Zoo überhaupt gegründet werden konnte, ist eng mit den Einnahmen aus sogenannten Völkerschauen verknüpft“, erklärt Caro. Auch sie habe erst vor wenigen Jahren erfahren, was das eigentlich war. Das Entsetzen darüber ließ sie tätig werden. So ging es auch Kalsoumy: „Viele hören davon zum ersten Mal. Das haben wir auch auf unseren Demos festgestellt.“ Noch dazu funktionierten heute ganz praktisch die gleichen Prinzipien wie im 19. Jahrhundert: Regelmäßig werden Veranstaltungen wie etwa „Hakuna Matata – Afrika live erleben“ angeboten. Ein weißes Publikum, prangert die junge Frau an, werde dabei in eine „fremde Welt“ entführt, indem es gegen Geld Schwarze und indigene Menschen und ihre angeblich typischen Rituale bestaunt. „Das ist eins zu eins das, was in sogenannten Völkerschauen passiert ist. Nur auf einer anderen Ebene.“
Mit ihrem Bündnis DecolonizeZoo Leipzig setzen sich Caro und Kalsoumy dafür ein, dass die Bi_PoC-Community bei der zukünftigen Ausgestaltung des Zoos mitreden darf: Wie könnte ein ethischer Zoo aussehen – und geht das überhaupt? Wie kann ein Gedenken gelingen? „Es wäre auch nicht hilfreich, wenn der Zoo von heute auf morgen einfach schließen würde. Da bliebe zu viel offen. Die Zoo-Begeisterten wären wütend und enttäuscht, Bi_PoCs würden zur Zielscheibe werden. Die Menschen sollten am Prozess teilhaben und ihn verstehen.“
„Wir protestieren gegen die ‚Distanzierung von Rassismus‘ eines Zoodirektors der offensichtlich nicht verstanden hat, wie Rassismus funktioniert. Statt einer floskelhaften ‘Distanzierung’ braucht es eine wirkliche Auseinandersetzung mit rassistischen Strukturen und Narrativen!“
Scout Spirit
Ein blütenweißes Hemd mit gesteiftem Kragen, knitterfrei und ordentlich: In seinem Outfit fällt Mohammad Ahmad auf. Seine Hände verschwinden im Rucksack und suchen nach dem entscheidenden Accessoire, das fehlt: ein rotes Dreieckstuch. Eilig zieht er es heraus, rollt das Stück Stoff zusammen und legt es um den Hals. Mohammad blickt auf und lächelt. Jetzt fühlt er sich komplett. Komplett als Pfadfinder.
Der 23-Jährige Mohammad Ahmad sitzt in der Passage 13 und wartet auf die anderen. Gemeint sind damit bis zu 35 Kinder und Jugendliche, die sich hier mindestens einmal in der Woche treffen. „Bei uns engagieren sich junge Leute zwischen 6 und 18 Jahren mit arabisch geprägter Biografie. Sie sind entweder in erster Generation in Deutschland geboren oder migriert – so wie ich“, erzählt Mohammad.
2015 sucht er mit seinen Eltern und den zwei Brüdern in Deutschland Schutz vor dem Krieg in Syrien. Die Reise dauert über einen Monat, doch das Ankommen teilweise bis heute. Diese Erfahrung teilt er mit vielen „Scout-Spirit“-Mitgliedern. Und sie war einer der Gründe, die Gruppe aufzubauen: die (post-)migrantische Gemeinschaft stärken, einen Platz in dieser Gesellschaft finden. Aber warum gerade als Pfadfinder*innen?
„Ich habe dazu einen engen familiären Bezug“, erzählt Mohammad. Sowohl sein Vater als auch sein Onkel waren in Syrien in diesen Strukturen aktiv. „Sie haben uns viel erklärt. Der Mix aus Natur und sozialem Engagement hat uns gefallen“, erklärt er. Anas ist seit den Anfängen dabei und erklärt das Spektrum von „Scout Spirit“: „Wir sind im Freien und machen Musik, geben aber auch kleine Workshops – zum Beispiel in Fotografie. Wir bieten Nachhilfe an oder einen Computerkurs, machen Malaktionen und Bewegungsspiele.“ Ziel sei es auch, Breitenwirkung in die Stadtgesellschaft zu entfalten. Um Werte wie Gemeinschaft, Respekt und Begegnung vorzuleben und Begegnungsräume zu schaffen.
„Wir hatten alle null Erfahrung im Handwerken, und das war großartig. Zusammen so etwas zu schaffen, hat uns beflügelt. Die Kinder waren voller Energie, und da haben wir uns gefragt: Warum sollten wir jetzt aufhören?”
narratif Magazin
„Dazwischen.“ Ein Wort wie ein beiläufiger Blick durchs Schlüsselloch. Ungeahnt offenbart sich dahinter eine Welt individueller Geschichten, Emotionen und Identitätsbrüche, die Menschen erleben, die sich als Schwarz, jüdisch und oder (post-)migrantisch identifizieren. Von schmerzhaften Erfahrungen erzählen sie jetzt in einem neuen Magazin. Der Titel: „narratif“. „Ich glaube, als (post-)migrantische Person oder Person in der (Post-)Diaspora ist dieses Gefühl immer da. Dazwischen und fluide zu sein, keiner Position vollends zuzugehören“, meint Gonca Sağlam. Wenn sie mit Sicilia Shehata und Sam Gurwitt die redaktionelle Arbeit der letzten Wochen reflektiert, schiebt sich vor allem ein Gefühl vor alle anderen: Überwältigung.
„Das betrifft die vielen Zuschriften von Autor*innen, die wir bekommen haben und den berührenden Ton ihrer Beiträge“, erklärt Sam und Gonca ergänzt: „Menschen teilen mit uns sehr persönlich die Aufarbeitung der eigenen oder familienbiografischen Migration, ihre Erfahrungen als queere Person in Deutschland oder Erlebnisse mit Rassismus. Das ist emotional extrem beanspruchend und gleichzeitig sehr kraftvoll.“
„Wir leben nach wie vor in einer weißen Dominanzgesellschaft – davon sind die Literatur- und Kunstbranche nicht ausgenommen“, unterstreicht Gonca. „Das Verständnis von Wissen ist in Deutschland weiß, akademisch und sehr exklusiv gestaltet.“ „Wir wollen mit ,narratif‘ einen Ort schaffen, an dem Bi_PoC ungefiltert Präsenz und Ausdruck finden. Einen Ort, an dem ihre Erfahrungen kollektiviert und vor allem auch archiviert werden.“
Die Idee für „narratif“ nimmt 2021 ihren Anfang, inmitten der Leipziger Plattenbausiedlung Grünau. Hier hat das Stadtteilprojekt „Perspectives“ seinen Sitz. Die Initiative richtet sich mit Kreativangeboten an junge Menschen, die sich als migrantisch, Schwarz oder jüdisch identifizieren – beziehungsweise als migrantisch markiert werden. Projektleiterin Yasemin Said ermittelte 2021 in einer Umfrage, welche Angebote sich Menschen im Viertel wünschen. Das Ergebnis unter anderem: ein Magazin als Sprachrohr. Auch Yasemin ist Teil der „narratif“-Redaktion, Sicilia hat die Redaktionsleitung inne. Überrascht hat die 24-Jährige der Wunsch nach einem Print-Angebot nicht. „Unsere Hauptmotivation war es, eigene Texte, Analysen, Essays, Gedichte, Fotostrecken abzudrucken. Dieser Community-Gedanke hat, denke ich, viele Menschen angezogen, weil sie sich bei uns selbst ausdrücken können.“
„Wir wollen mit ,narratif‘ einen Ort schaffen, an dem Bi_PoC ungefiltert Präsenz und Ausdruck finden. Einen Ort, an dem ihre Erfahrungen kollektiviert und vor allem auch archiviert werden.“
Wir wollen reden
Vor Safi Zubairullahs innerem Auge ziehen Ausschnitte der Vergangenheit vorbei. Regungslos steht er an der Straße, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Sein Blick heftet sich an zwei Männer, die volle Einkaufstüten die Steile hinaufschleppen. Es ist, als hinge das Gewicht der Beutel wieder an seinen Händen. Etliche Male ist er diesen Weg gegangen. Bis zum nächsten Supermarkt; einkaufen für damals drei Euro am Tag. Fünf Kilometer ins Zentrum von Suhl, fünf Kilometer zurück auf den Friedberg. „Und dann wieder rein ins freiwillige Gefängnis.“ So nennt Safi die Erstaufnahmeeinrichtung in Thüringen, in der er 2015 für drei Monate lebt. Wobei: „Gewartet, geschlafen, gelaufen“ – mit diesen Worten umschreibt er seinen Alltag in dieser Zeit. „Das ist das größte Problem an so einem Ort“, sagt er. „Es gibt keine Informationen für Geflüchtete. Keine Aufklärung.“ Dabei würde allein das schon helfen. Natürlich wünsche er sich auch eine Willkommenskultur und Gastfreundschaft, wie er sie aus seiner Heimat Afghanistan kenne. Einen menschenwürdigen Umgang, frei von Rassismus. Doch ebenso wesentlich, meint er, sei das Verstehen. „An welchem Ort bin ich hier? Warum sehen diese Gebäude wie Kasernen aus? Warum sind draußen manchmal Schüsse zu hören? Keiner erklärt einem das, wenn man hier ankommt.“ Emilia Henkel blickt ihn an und nickt schweigend.
Seit vier Jahren wohnt die Studentin mit Safi zusammen in Thüringen. Sie kennt viele Details seiner Fluchtgeschichte, weiß von seinen Erfahrungen in Suhl und dem Schießsportzentrum in der Nachbarschaft, das geflüchtete Menschen und ihre Erlebnisse mit Krieg, Folter und Tod triggert. Daher die Schüsse. Aus langen Küchengesprächen in ihrer Wohngemeinschaft erwächst schließlich mehr und mehr Engagement. Hilfe in der Nachbarschaft für Geflüchtete, ein Vortrag zu Thüringens Asylgeschichte und jetzt: das Projekt „Wir wollen reden“ in der Erstaufnahmeeinrichtung.
Safi und Emilia wollen da anknüpfen, wo Informationen fehlen. Kontaktdaten zu Anwält*innen, zu Hilfsorganisationen und psychosozialen Beratungsstellen in der Region, zu kooperativen Ärzt*innen, und zur Polizei. Parallel dazu arbeiten sie an einer kleinen Publikation, die über die Historie des Friedbergs aufklären soll.
„Ich habe viele traurige Sachen erlebt“, zieht Safi einen Strich unter dieses Kapitel. „Aber trotzdem versuche ich Thüringen als zweite Heimat zu sehen.“
„An welchem Ort bin ich hier? Warum sehen diese Gebäude wie Kasernen aus? Warum sind draußen manchmal Schüsse zu hören? Keiner erklärt einem das, wenn man hier ankommt.“
Safe Harbour
Wenn beim Laufen Geschichte erfahrbar wird: Mit dem Hör-Spaziergang „Safe Harbour“ ermöglicht die Theatergruppe Reclaim eine interaktive Begegnung mit Wismars Stadthistorie. Auf den Spuren der Migration bewegen sich Teilnehmende durch die Straßen – und in skurrile Situationen.
„Recherchebasiertes, interaktives Dokumentartheater im öffentlichen Raum“, nennen es Marius Zoschke, Wanda Drabon und Marie Pooth von der Theatergruppe Reclaim, wenn sie Menschen auf ihrem Stadtspaziergang „Safe Harbour“ durch Wismar führen. Doch nicht das übliche „Touri-Programm“ bekommen die Gäste bei diesem Audiowalk auf die Ohren: Das Team von Reclaim hat sich durch 80 Jahre Migrationsgeschichte gewühlt und eröffnet einen so ungewöhnlichen wie brennend aktuellen Blickwinkel auf die Stadt als Hafen. „Diese Stadt hier war schon immer von Migration geprägt“, erklärt Marius. „Das möchten wir verdeutlichen.“
Und so werden die Teilnehmer*innen auf die Reise geschickt: In die Zeit der Abertausenden fliehenden Menschen im Zweiten Weltkrieg, die Unterbringung von Gastarbeiter*innen, die Ankunft der jüdischen „Kontingentflüchtlinge“ in den Neunziger Jahren bis zum reibungsreichen Empfang von Syrer*innen 2015. Immer bleibt das Erzählte konkret, denn es berichtet ein Mensch. „Wir wollten erkunden: Ist Wismar ein sicherer Hafen“, sagt Marius.
Zur Vorbereitung bedeutete das intensive Gespräche mit Migrant*innen: 30 Stunden hat die Gruppe aufgezeichnet. „Wir haben ehrenamtliche Stellen angesprochen und nach Kontakten gefragt.“ Wanda und Marius seien tief bewegt gewesen von der Offenheit und dem Mut der Erzählenden. „Für viele war es eine Überwindung, für die Aufnahme deutsch zu sprechen“, erklärt Marius. Doch letztlich hätten alle Scham und Unsicherheit hinter sich gelassen. „Alle waren unheimlich stolz und aufgeregt, sich selbst zu hören“, sagt er.
Reclaim markieren mit ihrem Audiowalk Orte als Sehenswürdigkeiten, die Wismar ausmachen und dennoch auf keiner Postkarte abgedruckt sind: Die Geflüchtetenunerkunft Haffburg, das Bekleidungsgeschäft von Frau Nguyen, die bunten Graffiti-Wände jenseits der Bahngleise. Und sie machen Menschen bekannt, die als unscheinbare Prominente die Stadt prägen: Melake, Alaa, Ingrid, Zahra, René, Maryana. „Reclaim bedeutet zurückfordern, zurück erobern. Das ist es, was wir tun: Wir machen den öffentlichen Raum zu einer Bühne für die Menschen, die darin leben“, sagt Marius.
„Reclaim bedeutet zurückfordern, zurück erobern. Das ist es, was wir tun: Wir machen den öffentlichen Raum zu einer Bühne für die Menschen, die darin leben“
Wir danken den engagierten Initiativen und Einzelpersonen, den Förder*innen und allen Beteiligten:
Abya Yala Libre, Athletic Sonnenberg, Back to the Roots, Dalia, Decolonize Zoo, Geflüchteten Netzwerk Cottbus, Jugend spricht, Maha, Mariana, narratif, Nicolas, Omar, René, Safe Harbour, Scout Spirit, Somewhere Inbetween Jam, Sultana, Wir wollen Reden
Display: Paula Gehrmann, Design: Denise Lee, Fotos und Texte: DaMOst e.V., JUGENDSTIL*, Netzwerkstelle ostmigrantisch engagiert
Die gesamte Ausstellung Trotz allem! Postmigrantische Jugend bewegt den Osten ist unter bestimmten Bedingungen zur Ausleihe verfügbar. Sie kann auch zu Teilen ausgeliehen werden. Bei Anfragen und Rückmeldungen sind wir über folgende Kanäle erreichbar:
E-Mail: trotzallem@damost.de , hallo@jugendstil-projekt.de
Instagram: @damost_kn.youth @jugendstilprojekt
Website: www.damost.de www.jugendstil-projekt.de