„In einer Demokratie zu leben bedeutet für mich, dass man zunächst erst mal versteht, worum es geht.“

JUGENDSTIL* im Interview mit Tarik

Für unser Modellprojekt befragen wir junge Menschen mit internationaler Geschichte nach ihrer Lebenssituation, ihren Erfahrungen, ihren Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen für die Zukunft. Was bewegt die postmigrantische Generation heute, welche Themen beschäftigen die jungen Menschen und wofür setzen sie sich ein?

Heute stellen wir euch Tarik aus Leipzig vor. Das Interview mit dem damals 19-Jährigen Jurastudenten führten wir im November 2020.

Wie geht es dir in der „Corona-Zeit“, wie hast du die letzte Zeit bisher erlebt?

Ich würde sagen mir geht es sehr gut, ich glaube die meisten Menschen – in Deutschland zumindest – sind abgesichert. Natürlich empfinden sie – zum Teil auch sehr erhebliche – Einschränkungen, aber diese sind nicht direkt lebensbedrohlicher Art. Das soziale Leben hat sich verändert und die Uni findet teilweise digital statt. Als die sozialen Beschränkungen galten konnte man sich nicht mit Freunden treffen, das war schwierig. Aber ich denke uns geht es hier in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Menschen sehr gut.

Wo lebst du gerade? Was gefällt dir dort, was nicht?

Ich lebe in Leipzig – dort wo ich aufgewachsen bin. Mir gefällt, dass man hier alle Möglichkeiten einer Großstadt hat. Man kann hier gut und ruhig leben und ist trotzdem nicht komplett abgeschnitten von der Zivilisation. Die Uni – gerade der Fachbereich Jura – ist sehr breit aufgestellt und hat Tradition. Wenn es die Uni nicht gäbe, würde ein guter Grund wegfallen, hier zu bleiben. Weiterhin es gibt sehr viele gute internationale Restaurants. Ich glaube in Leipzig ist es einfach so, dass fast jeder seine Gruppe findet, ob man links ist, konservativ, aber auch wenn man rechts ist. Es ist eine sehr pluralistische Stadt.

Was bedeutet Heimat für dich?

Heimat bedeutet für mich ein Ort, wo man sich zu Hause fühlt, den man sich aussuchen kann. Es ist nix, was festgeschrieben ist. Man kann verändern, wo die Heimat ist, also man muss nicht da bleiben wo man geboren ist. Heimat wird geprägt durch Familie und Freunde, Jobchancen, Sprache. Wenn ich irgendwo lebe, die Sprache spreche und die Schrift beherrsche, habe ich aber viel mehr Möglichkeiten. Ich glaube Heimatgefühl hängt auch stark von der sozialen Akzeptanz ab. Wenn ich als absoluter Befürworter der Corona Regeln auf eine Querdenker-Demo gehen würde, würde ich mich da nicht zugehörig und heimisch fühlen. Und wenn man nun dieses Gefühl auf eine größere Kategorie überträgt, ist es das was ich meine. Das würde ich auch als einen Grund angeben, dass sich viele Menschen hier nicht heimisch fühlen, weil sie nicht akzeptiert werden und sich nicht gewollt fühlen. Heimat heißt, dass man eine soziale Bezugsgruppe hat. Es muss ja nicht ganz Leipzig meiner Meinung sein, aber es sollte ein paar Gruppen und Kreise geben, wo ich sagen kann, da fühle ich mich wohl.

Wir wissen es gibt Alltagsrassismus und -diskriminierung. Inwieweit ist dein Leben davon geprägt?

So direkt habe ich das nicht, also nicht direkt schlimme Erfahrungen gemacht. Was für mich Grenzbereiche sind, sind solche Fragen wie „Wo kommst du her?“ Diese Frage ist nie böse gemeint, aber man merkt, dass das Gegenüber irgendwie Zweifel hat an meinem Deutsch-Sein bzw. wird das oft vermittelt. So richtig Rassismus wüsste ich jetzt nicht, wann ich damit konfrontiert war. Das liegt vielleicht daran, dass mein Nachname als Deutsch angesehen wird und man mir meine internationale Herkunft nicht auf den ersten Blick ansieht, ich könnte auch in Spanien, Italien Frankreich oder Hamburg geboren sein.

Was verbindest du mit dem Begriff „Migrationshintergrund“?

Das heißt für mich relativ trocken, dass jemand eine Staatsangehörigkeit hat, dessen Eltern oder andere Vorfahren die nicht seit der Geburt haben. Fraglich ist ja, welche Auswirkung die Information über jemanden hat. Für mich wäre eine mögliche Auswirkung, dass derjenige eine andere Kultur vermutlich besser kennt als andere ohne diesen Migrationshintergrund. Aber an sich denke ich, prägt das oft das Zusammenleben nicht stark. Kann es natürlich aber, das kommt sehr auf den Einzelnen an.

Kennst du einen Begriff, den du passender für dich findest?

Ich finde das Wort an sich absolut nicht schlimm, ich fühle mich dadurch nicht diskriminiert, man muss aber immer den Kontext beachten. Wenn JUGENDSTIL* das jetzt beispielsweise benutzt, entsteht da was Fruchtbares, da kann man das ohne Zweifel verwenden, ohne diskriminierend zu sein.

Auf unserer Webseite verwenden wir die Begriffe „Menschen mit internationaler Geschichte“. Fühlst du dich damit gut angesprochen oder würdest du dir eine andere Ansprache wünschen?

Migrationshintergrund wird oft negativ konnotiert verwendet, es klingt so nach Entwurzelung. Trotzdem lehne ich den Begriff nicht grundlegend ab. Ich würde „Menschen mit internationaler Geschichte“ jedoch favorisieren. Der Begriff „Migration“ hängt ja zusammen mit migrieren. Was passiert da: Ich habe eine Staatsangehörigkeit und bekomme eine neue bzw. meine Vorfahren. Die Frage ist also: Wann bin ich Deutsch? Bin ich Deutsch, wenn ich Migrationshintergrund habe oder nur pseudodeutsch oder eine Mischform, irgendwie Deutsch und gleichzeitig nicht Deutsch? Das Staatsangehörigkeitsgesetz sagt: Deutsch ist jeder, der die deutsche Staatsangehörigkeit hat. Also dann gehört man quasi zu dieser Community. Dann ist man für mich mit Migrationshintergrund nicht weniger deutsch. Zutreffend ist jedoch, dass man eine internationale Geschichte hat. Wie das aber mit Geschichte so ist, sie ist vergangen. Auswirkungen hat sie natürlich trotzdem auf die Gegenwart. Ich glaube bei vielen Leuten verläuft der Gedankengang so: Deutsch sind nur Personen, die in ihrem Stammbaum deutsche Vorfahren haben und es fällt diesen Menschen schwer, jemanden der nicht klassisch „deutsch“ aussieht, als zugehörig zu akzeptieren. Es muss verstanden werden, dass ein Staat ein sehr nützliches Konstrukt ist, welches nicht primär darauf ausgelegt ist, andere Menschen auszuschließen, sondern darauf, zusammen eine Gemeinschaft zu bilden.

Wie ist deine Familiensituation? Wie lebst du im Moment, mit wem verbringst du viel Zeit?

Ich lebe in einer Wohnung in Leipzig zusammen mit meiner Verlobten. Ich studiere Jura. Ich verbringe viel Zeit mit gemeinsamen Freunden, die wir haben, ansonsten natürlich auch mit meiner Familie.

Was machst du so in deinem Alltag, wofür interessierst du dich?

Meine Interessen und Hobbies decken sich ganz stark mit meinem Studium. Ich studiere Jura nicht aus Pflichtbewusstsein, da steht ein ernsthaftes Interesse dahinter, weil ich das Fach sehr wichtig für die Gesellschaft finde. Mal losgelöst davon bin ich sehr gern mit dem Fahrrad unterwegs und unternehme gerne Reisen. Filme und Serien schaue ich gern, man muss sich ja auch mal mit anderen Themen beschäftigen; wo man seinen Kopf nicht unbedingt so anstrengen muss – sowas ist auch wichtig.

Welche Hoffnungen und Erwartungen hast du für deine Zukunft?

Persönlich: Ich möchte mein Studium erfolgreich abschließen und dann in einem juristischen Beruf arbeiten, in dem ich gesellschaftlich was beitragen kann und eine gewisse Verantwortung trage. Privat habe ich sehr konservative Träume: Haus – Kind – Garten – Hund.
Auf der gesellschaftlichen Ebene hoffe ich, dass sich die Spaltungen, die sich im Moment entwickeln – gerade bei der US-Wahl wurde das oft thematisiert – nicht zu sehr verfestigen, dass die Menschen wieder zusammenfinden. Es müssen sich ja nicht alle liebhaben, man soll ja debattieren und miteinander auch kontrovers streiten da sollte man allerdings wieder in einen objektiven Rahmen zurückkommen. Im Moment bilden sich teils Gruppen, wo andere Meinungen sehr stark abgelehnt werden. Man sollte auch im ersten Moment „blöd“ klingende Meinungen ernst nehmen und sie diskutieren. Dieses Desinteresse an Streit und Diskurs hat sich dann in unüberlegten Meinungen manifestiert.

Welche Befürchtungen oder Ängste hast du für deine Zukunft?

Ich habe natürlich die Sorge bzw. Angst für die Zukunft, dass mein Studium nicht klappt, dass ich durch die Prüfungen falle. Das ist so meine kurzfristige Befürchtung. Längerfristig habe ich – wie vermutlich die meisten – Angst vor schweren Krankheiten und anderen privaten Entwicklungen die man allgemein als Schicksalsschlag klassifiziert.

Welche Themen sind für dich in unserer Gesellschaft gerade besonders wichtig?

Einwanderung, Infektionsschutz/Hygiene, Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona Pandemie, Strafrecht, Digitalisierung

Welche Werte sind dir wichtig und warum?

Familie und Freunde, dass man da eine gewisseStabilität/Loyalität bewahrt. Mir ist außerdem wichtig, dass ein gesunder gesellschaftlicher Dialog geführt wird und natürlich – Weltoffenheit.

Was bedeutet es für dich, in einer Demokratie zu leben?

In einer Demokratie zu leben bedeutet für mich, dass man zunächst erst mal versteht, worum es geht. Ich glaube wenn man die Zusammenhänge nicht versteht, kann man sich auch nicht beteiligen. Man muss verstehen, wieso gibt es Parteien und wissen, was diese tun und wie man sie für die eigene Meinung nutzt. Man muss verstehen, dass der eigene Wille in diesem System zum Ausdruck gebracht werden kann und soll. Man sollte sich in einer Demokratie einbringen, indem man beispielsweise wählen geht, das ist ja die Grundform einer Willensäußerung in einer Demokratie. Man sollte also die Grundlagen der Demokratie verstanden haben und diese auch nutzen. Das System verstehen, akzeptieren und verbessern. Das bedeutet auch, dass ich andere Meinungen aushalten muss. Ich muss auch verstehen, dass nicht immer nur das läuft, was ich will, ich muss aushalten, was andere Meinungen aussagen. Indem ich das akzeptiere eröffne ich mir erst einmal die Möglichkeiten einer funktionierenden Demokratie – das bedeutet aber nicht, dass man seine eigene Meinung nicht mit Nachdruck vertreten sollte.

Inwieweit engagierst du dich im Moment ganz konkret für die Gesellschaft?

Ich würde behaupten, indem man Jura studiert, engagiert man sich schon, da man versucht, die Gesellschaft bzw. den Staat zu verstehen. Das ist die Intention meines Studiums. Jura thematisiert: Wie wollen wir unser Leben gestalten, was sind unsere tragenden Grundsätze? Es gibt direkte und indirekte Hilfe bzw. Engagement. Hochschulprofessor*innen tragen beispielsweise maßgeblich bei durch den wissenschaftlichen Diskurs. Direktes Engagement betreiben zum Beispiel Hilfsorganisationen. Ich würde das auch gerne mehr verwirklichen, mache ich im Moment nicht. Es ist nicht so, dass ich das ablehnen würde, aber es hat sich bis jetzt bei mir nicht ergeben.

Warum engagierst du dich bzw. warum würdest du dich gern zukünftig engagieren? Was motiviert dich?

In einer Gemeinschaft finde ich es sinnvoll, mich für das Gemeinwohl zu engagieren. Jeder sollte was für die Gesellschaft beitragen, wir sind alle auf andere Menschen angewiesen. Das stärkt einfach die Gesellschaft und das Verhältnis der Menschen untereinander.Anderen helfen ist ja auch etwas Menschliches, man sollte sich auch immer fragen, ob man nicht auch diese Hilfe erwarten würde oder darauf irgendwann angewiesen ist. Ein klassisches Beispiel ist Blutspende, man ist darauf vielleicht irgendwann angewiesen und trägt mit der Spende dazu bei, dass dieses System funktioniert. Engagement trägt dazu bei, dass das Leben aller Menschen verbessert wird. Indem ich Jura studiere lege ich – so sehe ich es für mich – auch eine Grundlage für Engagement weil ich somit mich vertieft mit aktuellen Streitfragen der Gesellschaft beschäftigen kann bspw. Sterbehilfe.

Interessierst du dich für Migrantenorganisationen bzw. –initiativen? Welche kennst du und was hältst du davon?

LAMSA e.V. und DaMOst kenne ich – familiär bedingt kenne ich mich damit ein bisschen aus, aber ich habe mich in dieses Thema noch nicht vertieft. Ich sehe, dass diese Organisationen eine gute Möglichkeit bieten, eine Meinung widerzuspiegeln, die eine bestimmte Gruppe hat, vor allem auch nach außen diese Meinung in die Öffentlichkeit zu vertreten, es ist eine übergeordnete Interessenvertretung. Der Beitrag für die Demokratie ist, dass hier die Interessen und Sorgen von Menschen mit internationaler Geschichte und anderen als große Organisation nach außen vertreten werden können. Also beispielsweise das was ich dir jetzt alles in dem Interview erzähle, wenn ihr das fruchtbar macht und nach außen tragt ist das toll, denn wo würde ich das erzählen oder bei wem würden meine Aussagen sonst ankommen? Daher sind solche Organisationen wichtig, denke ich. Mich selber in einer engagieren – weiß ich nicht, ich sehe mein Engagement eher im juristischen Kontext, bspw. als Anwalt, dass man die Interessen von Mandanten vertritt, die vielleicht gar nicht wissen, dass sie ein solches Recht haben. Im Asylrecht beispielsweise sind Menschen auf anwaltliche Hilfe angewiesen. Hilfe kann aber eben auch darin bestehen Interessen im Diskurs zu vertreten, so machen es ja Migrantenorganisationen auch – beides ist wichtig.

Auf welche Art würdest du dich gern mit Gleichgesinnten organisieren?

Es gibt sinnvolle Sachen wie Vereine von Studierenden, die sich gegründet haben, um aktuelle Probleme zu besprechen und zu diskutieren. Ich finde es wichtig, dass man das Wissen anwendet, was man im Studium gewinnt. Ich finde Parteien sehr wichtig beim Thema Engagement. Sie gibt es ja extra dafür, meine Interessen zu vertreten. Im virtuellen Raum ist es im Moment sehr wichtig, dass man Verschwörungstheorien und demokratieschädigende Fake-News bekämpft. Man sollte dort immer Alternativangebote der Information von wissenschaftlich anerkannten Theoretikern anbieten, Menschen aufklären und unterschiedliche Perspektiven aufzeigen, versuchen auf die Menschen zuzugehen, die man sonst nicht erreicht. Es gibt wenige Menschen, die das Internet heute nicht nutzen, daher ist es ein wichtiges Medium, mit Menschen zu kommunizieren, mit denen man sonst nicht kommunizieren kann. Da muss man organisiert ein Angebot schaffen – das passiert ja auch. Beispielsweise gibt es dadurch auch die Möglichkeiten, Rechtsradikalen den Ausstieg aus ihren Netzwerken zu bieten und zu erleichtern usw. – es bietet viel mehr Möglichkeiten und könnte als Demokratieinstrument effektiver genutzt werden, zum Beispiel Aufrufe über Facebook für Demonstrationen usw.

Welche Kompetenzen möchtest du durch gemeinnützige Arbeit gern erwerben oder ausbauen?

Neutralität finde ich als Kompetenz wichtig, ganz klar eine Meinung vertreten aber gleichzeitig nicht alles ablehnen, was der eigenen Meinung nicht entspricht. Das man gesellschaftlich das Zusammenleben fördern kann und so eine gewisse intergesellschaftliche Kompetenz entwickelt, also, dass man ein Gefühl dafür entwickelt: Wo sind die Probleme, wo polarisiert sich die Gesellschaft und wo sind sich alle weitestgehend einig? Dass man erkennt, wo endet eigentlich Meinungsfreiheit und dass man dann auch widerspricht. Also das man vertretbare und nicht vertretbare Meinungen erkennt und dann auch dagegenhält. Diesen Dialog sollte man suchen – das mache ich zurzeit wenig bis gar nicht.

Was brauchst oder wünschst du dir an Unterstützung für dein Engagement?

Man braucht immer Menschen die mitmachen. Außerdem braucht man aber auch Menschen, die kritisch dagegenhalten aber nicht prinzipiell alles ablehnen. Wenn ich mich engagiere und eine Gegenmeinung wahrnehme, sollte man die andere Meinung nicht einfach als blöd abstempeln. Man sollte immer noch ein Gefühl für Meinungen anderer Gruppen haben, gerade die man nicht vertritt. So festigt sich ja letztlich auch die eigene Meinung. Zweiter Aspekt, den man für Engagement braucht, ist Geld. Man braucht Geld um Aktivitäten zu finanzieren. Ich kann ganz tolle Ideen haben mich zu engagieren, aber wenn ich kein Geld habe, kann ich sie nicht umsetzen. Also Geld und Menschen die mitmachen braucht es. Und von anderen natürlich die Bereitschaft gehört zu werden. Wenn ich mich engagiere und es hört niemand, ist das auch nicht sinnvoll.